High Noon oder Paulistanos pilgern

Meist ist die Rua Guararapes zwischen der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini und der Avenida Nações Unidas menschenleer.

Als ich an einem meiner ersten Tage in der Stadt gedankenverloren vom Balkon hinuntersah, bot sich mir ein ganz anderes Bild: Auf einen Schlag bevölkerte sich die Straße.

Zahllose Menschen im Business-Outfit drängen innerhalb von Minuten auf die engen Bürgersteige. Was machen all die Menschen nur so plötzlich hier, fragte ich mich, als ich diese Szene beobachtete.

 

Vielleicht findet eine große Konferenz in der Nähe statt, dachte ich. Ich setzte mich wieder an den Computer, und als ich einige Stunden später wieder vom Balkon blickte, war die Straße wieder wie ausgestorben.

 

Das Bild wiederholte sich, am nächsten und am übernächsten Tag. Da ich ohnehin einige Erledigungen geplant hatte, machte ich mich auf den Weg, um die Völkerwanderung näher zu betrachten: Ich sah die Menschen allein, in kleineren oder größeren Gruppen in Restaurants pilgern. Eigentlich naheliegend in Anbetracht der Uhrzeit, dachte ich mir.

 

Aus Deutschland kannte ich diese kollektive Pilgern zum Mittagessen nicht. Weder in Berlin-Mitte um den Potsdamer Platz noch im Prenzlauer Berg oder in westlichen Stadtbezirken wie Charlottenburg hatte ich ähnliches beobachtet.

 

In den meisten Unternehmen, in denen ich gearbeitet hatte, wurde der mittägliche Hunger zwischendurch vor dem Computer gestillt.

Eine Ausnahme bildete das Unfallkrankenhaus Berlin, dessen Pressesprecherin ich bis zu meiner Abreise nach São Paulo war. Am äußersten östlichen Rand der Stadt, quasi im Niemandsland ohne nennenswerte Einkaufsmöglichkeiten, gelegen, betrieb die Klinik ein Casino, das Mitarbeitern und Besuchern offen stand. Ich brauchte allerdings fast ein Jahr, bis ich mir den Genuss eines Mittagessens gönnte, denn es war stets viel zu tun.

 

In São Paulo herrscht ganz offensichtlich eine andere Kultur. Mittags wird scheinbar ausgiebig geschlemmt. Im Rahmen meiner Recherche im Februar war ich fast schockiert, denn vor vielen Restaurants waren Tafeln mit den Worten “por quilo” angebracht. Keine Frage: Ein gutes Mittagessen stärkt den Organismus. Doch dass die Menschen mittags “por quilo” genießen, schien mir tatsächlich etwas übertrieben.

 

Nun, der Selbsttest ergab, dass das Angebot keine Wünsche offen lässt, weder für Kalorienbewusste, noch für Menschen mit gutem Appetit. Ein Medley unterschiedlicher Vorspeisen, Salate, aller nur vorstellbaren Sättigungsbeilagen, Gemüse, Fleisch und Fisch in jeder Form, Brot, Käse und selbstverständlich eine Dessertauswahl wird angeboten. Genuss pur, von wenigen Gramm bis zum Kilo.

 

Für die mittägliche Schlemmerei gewähren die brasilianischen Arbeitgeber ihren Mitarbeitern von einer bis zu eineinhalb Stunden pro Arbeitstag, erfuhr ich.

In Deutschland ist man diesbezüglich nicht so großzügig. Wenn überhaupt lassen die Berufstätigen dort ihr protestantisches Arbeitsethos im Höchstfall für 30 Minuten pro Tag in der Schublade ihres Schreibtischs verschwinden.

 

Einen weiteren Vorteil genießt der brasilianische Arbeitnehmer: Sein Mittagessen wird vom Arbeitgeber subventioniert. Mit dem Ticket Restaurante, um nur einen Anbieter zu nennen, erhält der Mitarbeiter eine Art Kreditkarte, auf die der Arbeitgeber einen bestimmten Betrag, schätzungsweise R$ 10 pro Arbeitstag, einzahlt, von dem es sich der Arbeitnehmer schmecken lassen kann.