Klänge der Großstadt

Als wir die erste Nacht in unserem neuen Apartment verbrachten, waren wir irritiert. Gespenstisch still war es hier, in der Cidade Monções.

Das waren wir nicht gewohnt, nach den vielen Monaten, in denen uns die monotonen Klänge von Presslufthämmern und die wummernden Bässe aufgemotzter Aufreißerschlitten, die nach einem ausführlichen Tankstopp oder einer nächtlichen Party an der ALE-Tankstelle durch die Rua Guararapes zwischen der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini und der Avenida Nações Unidas donnerten, durch die Nacht begleitet hatten.

Nachdem die Professionals am frühen Abend ihre Büros verließen, trafen sich, sobald die Sonne unterging, Männer mit schwerem Gerät, um eine der drei Straßen aufzureißen. Mein Mann entwickelte irgendwann die Theorie, dass es sich bei diesen Unermüdlichen um frustrierte Manager handelt, die sich, statt in ein Fitness-Studio zu gehen, entschlossen hatten, die Frustrationen des Alltags auf diese sehr archaisch-männliche Weise zu bearbeiten. Kaum war ein Projekt beendet, gingen die Herren der Presslufthämmer an anderer Stelle mit unverminderter Lautstärke zu Werke.

 

Dank unserer nächtlichen Machos in ihren funkelnden Flitzern waren wir stets über die aktuellen Sommerhits informiert. Wir hörten sie alle, die Songs, mit denen sie die Damen zu beeindrucken versuchten. Unfassbar, in welcher Qualität uns die Top Ten zu Ohren kamen. So glasklar gab meine Berliner Musikanlage die Sounds nicht wieder.

 

Ländliche Idylle hingegen herrscht zwischen der Rua Califórnia und der Rua Nova York: Tagsüber zwitschern die Vögel, nachts ist alles still. Nur der zarte Klang einer Vogelstimmen imitierenden Flöte klingt durch die Nacht. Und genau dieser Klang, der so ungewohnt war, gab uns des Nachts Rätsel auf. Wir lauschten, lauschten wieder und konnten uns dieses regelmäßig wiederkehrende Klangereignis nicht erklären.

 

Meine Freundin Heike, die abgeschieden in einer reinen Wohngegend lebt, setzte uns ins Bild: Durch die Flöten informieren sich die Straßenwächter untereinander. Eine bestimmte Klangfolge signalisiert, dass keine Gefahr besteht oder dass Gefahr im Verzug ist. Dies ließ uns wieder ruhig schlafen. Nicht Presslufthämmer und Musikanlagen hatten uns um den Schlaf gebracht – nein, eine kleine Flöte hatte uns Rätsel aufgegeben.

 

Auch als mein Mann kürzlich in Deutschland war, hat die Stille ihm den Schlaf geraubt. In einem idyllischen Landhotel im Badischen war er stundenlang damit beschäftigt, der ungewohnten Stille zu lauschen.

 

Als ich vor Jahren nach einem längeren Aufenthalt aus New York zurückgekehrt bin, sah ich im Kino einen Film, der eine wertvolle Anregung für diejenigen, die den Klang der Großstadt vermissen, gab. Ich ärgerte mich, dass ich nicht, wie der Protagonist des Films, auf die Idee gekommen war, die Geräusche der Stadt aufzuzeichnen, um so meine Sehnsucht zu stillen und mich in die Straßen der Stadt, die niemals schläft, zurückzuversetzen.

 

Während meines nächsten New York-Aufenthalts hatte ich den Finger häufig auf der Aufnahmetaste meines Mobiltelefons. Ich nahm unter anderem die Sirenen eines Feuerwehrautos auf, deren Klang mein gesamtes deutsches Umfeld jahrelang irritierte, denn ich wählte diesen als Klingelton.

 

Sollten wir São Paulo je wieder verlassen, werde ich sie aufnehmen, die Klänge Brooklins - die Presslufthämmer, die wummernden Musikanlagen und die zarten Flöten - denn eines Tages werde ich diese Klänge vermissen.