In rasender Geschwindigkeit

Kaum ein Tag vergeht, an dem sich der Blick von unserem Balkon nicht verändert. Wir leben, so las ich kürzlich, in einer Region der Stadt, in der etwas geschieht. Die Zona Sul, die Südzone der Stadt, befindet sich, laut dem Wirtschaftsmagazin Exame, in der urbanen Transformation. Wo heute zahllose niedrige Gebäude stehen, sollen in absehbarer Zeit stylische Wohn- und Bürohochhäuser hochgezogen werden.

Längst ist die aus ein paar Häusern bestehende Favela am Fuße der Morumbi-Brücke, deren Überreste wir bei unserem ersten Spaziergang zum Morumbi Shopping, einem nahegelegenen Einkaufszentrum, noch passiert hatten, abgerissen. Um das Wahrzeichen der Stadt herum wird emsig gebaut. Sechs neue Häuser entstehen, in rasender Geschwindigkeit.

 

Während wir noch im Juni, zu unserem Einzug, einen gänzlich freien Blick auf die 1992 eröffnete, imposante Brücke hatten, beginnt das Skelett eines Hauses unsere phänomenale Aussicht einzuschränken.

 

Aktuell können wir von der Rua Pensilvânia, in der wir leben, geradeaus bis zum Shopping Morumbi, rechts bis zur Morumbi Brücke und der eindrucksvollen Skyline von Brooklin Novo und links bis zur Avenida Santo Amaro blicken, denn noch trotzen die charmanten Einfamilienhäuser den ambitionierten Bauvorhaben. Zumindest in Teilen. Noch.

 

Doch nicht nur rund um die Morumbi-Brücke herrscht rege Bautätigkeit, auch an der Avenida Jornalista Roberto Marinho werden erste freie Flächen erschlossen.

 

Alles beginnt mit einem kleinen Pavillon, der Kaufinteressenten in die Welt der neuen Immobilie entführt. Diese Illusionsräume sind wirklich beeindruckend. Von Grundrissen und Modellen über täuschend reale Animationen bis hin zu ausgestalteten Wohnbereichen wird vieles geboten.

Insbesondere an den Wochenenden herrscht dort Hochbetrieb. Fahnenschwenkende junge Frauen, die den Straßenrand des Pavillons säumen, laden zur Besichtigung ein. Zahllose vom Bauträger beauftragte Makler erörtern die Vorteile der Immobilie, wenn sie nicht gerade selbst vor der örtlichen Padaria, der Bäckerei, für das neue Bauvorhaben werben.

 

Geworben wird viel für ein neues Projekt: An Ampeln verteilen Männer und Frau jeden Alters Hochglanzprospekte und aufwändig gestaltete Magazine zum geplanten Neubau. An den Straßenecken stehen den ganzen Tag über Menschen mit Werbeschildern, meist in Form eines Pfeiles, der den Weg zur Traumimmobilie weist.

 

Insbesondere unmittelbar nach der Eröffnung eines neuen Pavillons geben sich die Interessenten bis spät in die Abendstunden die Klinke in die Hand. Wer möchte nicht in einer aufstrebenden Gegend leben und sich nicht den entscheidenden Kaufvorteil sichern, denn: Wer zuerst kommt, spart.

 

Anders als in Deutschland wird mit dem Bau nämlich erst begonnen, wenn eine ausreichende Anzahl an Apartments verkauft ist. Hier arbeitet der Bauträger mit dem Geld der Endkunden und nicht mit den in Deutschland üblichen Krediten. Das kann wohl auch schon einmal schief gehen. So fährt ein Mitarbeiter meines Mannes regelmäßig zu „seiner“ Baustelle, um den Stand der Dinge vor Ort zu prüfen. Solange seine Traumwohnung noch nicht fertiggestellt ist, lebt der Dreißigjährige noch bei den Eltern – wie auch seine langjährige Verlobte, in der Hoffnung, dass sich die Risikofreude bezahlt macht und beide bald stolze Besitzer ihres eigenen Apartments sind.

 

Neigt sich der Sonntagabend über Brooklin, fahren scheinbar unvermittelt und aus im ersten Moment nicht nachvollziehbaren Gründen viele, meist neue weiße Kombis, in Deutschland als klassische VW-Busse der ersten Generation bekannt, durch die Straßen.

In der Woche ist das Straßenbild geprägt von diesen Fahrzeugen mit großer Ladefläche, denn das deutsche Fabrikat ist äußerst beliebt bei Malereibetrieben, Gärtnern und vielen anderen Dienstleistern. Wenn dann am Sonntag gegen 18.00 Uhr auf einen Schlag zehn bis 20 oder mehr davon plötzlich durch die kleinen Wohnstraßen fahren, ist dies schon auffällig.

 

Dieses Rätsel war nach einigen Abendspaziergängen gelöst, denn die Kombis nehmen die vielen Zettelverteiler und Schilderhalter, die Bicos, und ihre Werbemittel an Bord. Irgendwie logisch, denn diese ließen sich im Bus, dem Transportmittel, auf das diejenigen, die die geringfügig bezahlte Nebentätigkeit verrichten, angewiesen sind, schlecht transportieren.

 

Gerade wurde ein neuer Kran aufgestellt, ein neues Bauvorhaben begonnen. Bis die Einfamilienhäuser rund um die Rua Pensilvânia den angesagten Apartmenthäusern, die bei kleinerer Wohnungsgröße um die 200 Wohneinheiten umfassen können, gewichen sind, wird noch einige Zeit vergehen. Bis dahin bleibt der Ausblick frei und spannend.