458 Jahre São Paulo: Bilder der “Locomotiva do Brasil”

„Als Berlin gegründet wurde, stand Aachen bereits seit mehreren Jahrhunderten in voller Blüte“, erklärte mein Mann vollmundig, als ich eines Tages mit Stolz über meine Heimat-, wenn auch nicht meine Geburtsstadt sprach.

In der Tat: Aachen zelebriert Ende Januar den 1198. Todestag Kaiser Karls des Großen, der die Stadt maßgeblich geprägt hat, mit dem alljährlichen Karlsfest.

 

Berlin dagegen mutet tatsächlich geradezu jung an, denn die im Jahr 1237 gegründete Stadt begeht am 28. Oktober ihr erst 775. Stadtjubiläum.

 

Inzwischen haben wir dem alten Europa den Rücken gekehrt und leben nun in einer wirklich jungen Stadt. Nur 458 Jahre zählt São Paulo, unsere neue Heimatstadt, die am 25. Januar 1554 von Manuel da Nóbrega und José de Anchieta, zwei Missionaren, gegründet wurde.

 

Jung, dynamisch, erfolgreich – das ist die Megacity heute. Veja, das wichtigste brasilianische Nachrichtenmagazin und nach Time und Newsweek auflagenstärkste Heft weltweit, präsentierte zum Geburtstag eine Fotoserie, die den Versuch unternimmt, den wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt des Landes in dreizehn Aufnahmen in seiner Vielschichtigkeit zu visualisieren, ja zu erfassen.

 

Beeindruckend sind sie, diese Aufnahmen, dieses Psychogramm einer bipolar anmutenden Stadt. Die Bilder und deren knapp und wohl formulierte Titel spielen mit Klischees und lösen diese auf überraschende Weise auf. Sehr hintergründig und nicht immer leicht zu verstehen für mich, die ich nicht einmal ein Jahr in dieser Stadt lebe.

 

So zeigt ein Foto, aufgenommen von Ary Diesendruck, die Füße einer Sambatänzerin in der Bewegung, verschwommen durch die rasende Geschwindigkeit. Überschrieben ist die künstlerisch anmutende Aufnahme, mit der der Fotograf den ‘Samba no pé’, den „Samba in den Füßen“, zeigen möchte, allerdings mit dem Titel “Tumulo do samba”, was wörtlich übersetzt „Grab des Samba“ bedeutet. Sonderbar!

 

Eine Freundin, die lange in der Stadt lebt, half mir weiter. Sie berichtete, dass allgemeinhin gesagt würde, dass die Paulistanos nicht für Karneval geschaffen seien, dass sie gar unfähig seien, ihn zu feiern – dazu seien sie zu trocken und zu arbeitsam. Das macht Sinn und zeigt gleichzeitig, dass Gemeinplätze in dieser Stadt selten greifen und dass der erste Schein häufig trügt.

 

Alles eine Frage der Perspektive. São Paulo ist die “Locomotiva do Brasil”, wie Klaus Mitteldorf seine beeindruckende Fotografie nennt, die wartende Fahrradlieferanten mit ihrem Arbeitsgerät vor einer Fleischerei zeigt.

 

Es mag Momente der Ruhe geben, Stillstand gibt es aber nicht. Auch nicht in Brooklin. Zwölf Häuser mit unterschiedlichem Baufortschritt sind vor unseren Augen entstanden, in nicht einmal sieben Monaten. Die vier Pavillons, die Käufern ihre Immobilie der Zukunft anpreisen, nicht mitgerechnet.

 

Kaum hatte das neue Jahr angefangen, begann ein Abrissunternehmen die gegenüberliegende pharmazeutisch Produktionsstätte, die noch im Herbst in Betrieb war, zu demontieren. Die Dächer wurden abgetragen, die Produktionshallen mit Baggern eingeebnet. Der blau-weiße Wasserturm, der das Unternehmen speiste, ist inzwischen auch eingerissen und wird bald wie vom Erdboden verschwunden sein. Wir werden ihn vermissen, den schönen Wasserturm mit Retrocharme, denn er ragte aus dem Meer kleiner Einfamilienhäuser heraus wie eine Art Wahrzeichen.

 

Auch der Turm des TV-Senders Rede Globo, dessen imposantes nächtliches Farbspiel ein echter Blickfang ist, verschwindet zusehends aus unserem Gesichtsfeld. Bald werden wir auch keine freie Sicht mehr auf die Morumbi-Brücke genießen, die, obwohl sie erst 1992 in Betrieb genommen wurde, bereits zu den anerkannten Wahrzeichen der Megacity zählt.

 

Klassische Wahrzeichen gibt es wenige in dieser ungeheuer dynamischen Stadt. Der Fotograf Tuca Viera hat eines von ihnen, das 1966 nach Entwürfen von Oscar Niemeyer fertiggestellte Edifício Copan, zum Stadtgeburtstag portraitiert. Seine gelungene Arbeit, die den ketzerischen Titel “A cidade de prédios feios”, „Die Stadt der hässlichen Hochhäuser“, trägt, beschreibt er als Ballett des Edifício Copan und des alten Hilton Hotels. Der futuristische Look erinnere ihn an den Film „Metropolis“ des österreichischen Filmkünstlers Fritz Lang.

 

Das neue Hilton Hotel sehen wir von unserem Balkon. Der Blick auf den aus zwei Türmen bestehenden Gebäudekomplex wird frei bleiben, denn er ragt hoch in den Himmel. Er bleibt ein Fixpunkt, von denen es in der ausgesprochen lebendigen Megacity wenige gibt.

 

Sie entwickelt sich täglich. Schon morgen wird sich ihre Silhouette wieder ein wenig verändert haben. Sie ist nicht statisch und lädt dazu ein, sie immer wieder aus einem neuen Blickwinkel zu entdecken.

 

Die Fotoserie zum Stadtgeburtstag in Veja:

http://vejasp.abril.com.br/clicksp/galeria-sao-paulo-que-surpreende