Nach nur einem Jahr “Esther, Agora você é mais”

Annähernd 30.000 Deutsche zählte Brasilien laut verschiedener Quellen im Jahr 2010.

Für den Bundesstaat São Paulo hatte die Polícia Federal, die Bundespolizei, zuletzt 2008 eine Schätzung durchgeführt. Die Behörde kam auf etwa 21.000 Deutsche. Aktuelle, verlässliche Zahlen liegen nicht vor, denn Brasilien verfügt nicht über ein einheitliches Meldewesen.

Am 28. Oktober 2010 traf mein Mann in São Paulo ein, mit gültiger Abmeldebescheinigung des Berliner Bezirks, in dem er zuletzt gelebt hatte.

Vor genau einem Jahr, am 12. Februar 2011, landete ich nach 12 Stunden und 55 Minuten am Aeroporto Internacional de Guarulhos.

 

Eine Megacity, die sich vieler Superlative rühmt, galt es zu entdecken: 35 Jahre hatte ich in Berlin gelebt, der Metropole, die seit dem Jahr 2006 mit dem Slogan „Arm aber sexy“, den Bürgermeister Klaus Wowereit geprägt hatte, kokettiert.

 

Ganz anders São Paulo: Laut einer Studie des globalen Beratungsunternehmens Mercer fand sich die Megacity 2011 erstmals unter den Top 10 der teuersten Städte weltweit.

 

Da wundert es kaum, dass Presence Mystery Shopping, ein in Paris ansässiges Marktbeobachtungsunternehmen, das die bekanntesten Einkaufsstraßen weltweit nach harten Kriterien testet, die Rua Oscar Freire, die erste Shopping-Adresse der 11-Millionen-Stadt, im Januar 2012 auf Platz Nummer 5 einstufte.

 

Im Centro Comercial Aricanduva, das mit dem Claim “Gigante como São Paulo” wirbt, zählt nicht Klasse, sondern Masse. Mit seinen über 500 Shops, drei Hypermärkten, 14 Kinos und 14.700 Parkplätzen gilt der Gigant als größtes Shopping Center Lateinamerikas.

 

São Paulo ist die größte italienische Stadt außerhalb Italiens. Gleiches gilt für die Zahl japanischer, spanischer, libanesischer und portugiesischer Einwanderer.

 

Entsprechend vielfältig ist das gastronomische Angebot. 52 unterschiedliche kulinarische Richtungen, geprägt durch ihre insgesamt 200.000 Einwanderer, bietet die Megacity, die über 12.500 Restaurants und 15.000 Bars verfügt.

In den 1.500 Pizzerien werden 1 Million Pizzen pro Tag und 720 pro Minute gebacken. Wie viele Sushis in den 250 japanischen Restaurants, von denen behauptet wird, dass sie besser als die in Tokio seien, gerollt werden, ist nicht überliefert.

 

Beeindruckende Zahlen weisen auch die omnipräsenten Padarias, Bäckereien mit einem reichen Sortiment an Waren des täglichen Bedarfs, auf. So werden in den 3.200 Geschäften täglich über 10 Millionen Brötchen gebacken.

 

Die Megacity bäckt große Brötchen, in jeder Hinsicht, ganz anders als das beschauliche Berlin und verblüffender Weise auch in anderen Dimensionen als New York, der europäischsten Metropole des amerikanischen Kontinents. Gleichzeitig muten die Paulistanos sehr viel bescheidener als die großmäuligen Berliner und die selbstverliebten New Yorker an.

 

Die Megacity hat uns mit offenen Armen empfangen, hat uns ihren Reichtum, ihre Armut, ihre schönen und ihre hässlichen Seiten gezeigt. São Paulo ist unsere Stadt geworden. Ganz offiziell, denn am 27. Januar erreichten uns unglaubliche Neuigkeiten: Im “Diário Oficial da União No. 16, segunda-feira, 23 de janeiro 2012” war folgendes zu lesen: “DEFIRO o Pedito de Transformação de Visto Temporário item V em Permanente, com base em cargo diretivo. Processo No. xxx DIRK BEUTH e ESTHER KATHRIN BEUTH HEYER.”

 

Nie hätten wir gedacht, dass dem Antrag vom 4. Oktober 2011, unser temporäres Visum in ein permanentes umzuwandeln, so schnell entsprochen werden würde. Nun können wir unsere Permanência innerhalb der nächsten 90 Tage bei der Polícia Federal abholen, die für mich gleichzeitig die Arbeitserlaubnis bringt.

 

Bleibt die Beantragung der Carteira de Trabalho, einer Art Logbuch für die berufliche Tätigkeit, die sofort ausgehändigt wird. Meine RNE, den Ausländerausweis, und die CPF, eine Steuernummer, habe ich längst. Auch mein Lebenslauf ist bereits ins Portugiesische übersetzt.

 

In der kommenden Woche werde ich São Paulo als Wohnort in meinen deutschen Reisepass eintragen lassen. Und da es eben kein Meldewesen nach deutschem Vorbild gibt, muss ich an mich adressierte Post mit elektronisch gefertigtem Etikett vorlegen. Neben meiner Mobilfunkrechnung, die nur ungern als Beleg akzeptiert wird, habe ich glücklicherweise noch ein anderes Schriftstück zu bieten: die Bestätigung der Teilnahme am Kundenprogramm unseres Supermarkts, auf deren Vorderseite ein interessanter Satz zu lesen ist: “Esther, Agora você é mais”, was so viel bedeutete wie „Esther, jetzt bist Du mehr“. Was die Treue zu einem Supermarkt so alles zu bewirken vermag…