Deutsches Fräuleinwunder in São Paulo

Deutsches Fräuleinwunder ist, laut Wikipedia, ein Begriff, der in den 1950er Jahren in den USA geprägt wurde. Ein Jahrzehnt lang stand er für junge, attraktive, moderne, selbstbewusste und begehrenswerte deutsche Frauen der 50er Jahre, so die freie Enzyklopädie.

Auslöser war das Mannequin Susanne Erichsen, das 1950, im Alter von 24 Jahren, in Baden-Baden die erste Miss Germany-Wahl der Bundesrepublik Deutschland gewann. Als sie 1952, zwei Jahre nach ihrer Wahl, als „Botschafterin der deutschen Mode“ in die USA reiste, war die Presse von der dunkelhaarigen Deutschen derart begeistert, dass sie die Berlinerin zum „Fräuleinwunder“ erklärte. So entstand ein Name, der zehn Jahre lang zum Inbegriff der jungen, schönen und begehrenswerten deutschen Frau in Amerika werden sollte.

 

Ganze 60 Jahre später wurde ich Zeugin eines neuen deutschen Fräuleinwunders – nicht in Nordamerika, sondern vielmehr in der südamerikanischen Megacity São Paulo.

 

Mit ihren 1,75 und 1,71 Metern, ihren gertenschlanken Figuren, ihren langen, glänzenden hell- und mittelblonden, bis zu den Ellenbogen reichenden Haaren zogen die Nichten meines Mannes, die Anfang des Monats die Megacity besuchten, vom ersten Moment an die Blicke auf sich.

 

Kaum in der reichlich exotischen Metropole am anderen Ende der Welt angekommen, wollten die jungen Damen shoppen gehen. Schuhe interessierten sie ganz besonders, erfuhr ich. Zur Eingewöhnung wählte ich Shopping Morumbi, das mit seinen 17 Schuhgeschäften sicher einiges zu bieten hätte.

 

Von der fast zwanzigstündigen Reise war plötzlich nichts mehr zu spüren. Glückselig schlenderten die Mädchen durch das Shopping-Paradies, bis wir Corello erreichten. Wie magisch wurden die Schuhliebhaberinnen in das brasilianische Traditionsgeschäft hineingezogen. Je höher, desto besser, je glamouröser, desto interessanter – zumindest für die Ältere. Nachdem die Schuhgrößen ausgemacht waren, kehrte die engagierte Schuhverkäuferin mit geschätzt 20 Kartons zurück.

 

Während die Mädchen mit strahlenden Augen die Schatzkisten durchforsteten und ein Paar nach dem anderen anprobierten, zog mich die Schuhverkäuferin schüchtern zur Seite. Ob die junge Dame mit der Vorliebe für High Heels denn ein Model sei, wollte die routinierte, ältere Fachkraft wissen. Als sie erfuhr, dass das grazile Geschöpf noch zur Schule geht, saß sie mich ungläubig an.

 

Auf die Antwort zur gleichen, vorsichtig geäußerten Frage reagierte Jefferson, der bezauberndste Schuhverkäufer, der mir je unterkommen ist, gleichermaßen fassungslos. Der junge Mann wusste ohnehin nicht wie ihm geschah, als die beiden Grazien am nächsten Tag an meiner Seite das Schuhgeschäft im Stadtzentrum betraten. In rührender Emsigkeit präsentierte er sein Sortiment, reichte einen jeden Schuh an, als handele es sich dabei um Cinderellas gläsernen Schuh. Er genoss die Präsenz der beiden Mädchen und gleichzeitig verstörte sie ihn zutiefst.

 

Im ersten Moment verstört reagierte auch die jüngere der beiden Schülerinnen eines katholischen Mädchengymnasiums aus dem beschaulichen Neuss (NRW), als sich uns, am gleichen Morgen, noch an der Bushaltestelle in Brooklin, ein älterer, distinguierter Herr näherte, der beim Anblick der Jüngeren seine Kinderstube zu vergessen schien, so fasziniert war er von der lässig zum Dutt gebundenen Frisur des Mädchens. Tatsächlich macht er Anstalten, dieses Haarkunstwerk ehrfürchtig zu berühren, was verständlicherweise dazu führte, dass das junge Fräulein erschrocken zur Seite sprang.

 

Sogleich wandte er sich an mich und entschuldigte sich wortreich für seine Entgleisung. Die Frisur sei einfach bezaubernd, da habe er nicht widerstehen können, und die Mädchen seien wirklich wunderschön. Woher denn die Schönheiten stammten, wollte der Mann, nun wieder ganz Gentleman, wissen, bevor er nach einem kurzen Austausch seinen Weg glücklich und dankbar fortsetzte.

 

Nur einen Tag später zogen die Mädchen gleich fünf junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren in ihren Bann, in einem Bus, in dem wir eine längere Strecke miteinander zurücklegten. Kaum eingestiegen, suchten die jungen Männer das Gespräch. Von ursprünglich etwas plumper Anmache bis zu wirklichem Interesse reichte das Spektrum. Kurzweilig war dieser Austausch, den ich zusammen mit unserem männlichen Beschützer, dem 14 jährigen Sohn der Assistentin meines Mannes, übersetzte, wenn auch mit einen kurzen, amüsanten Missverständnis.

 

So kam große Begeisterung auf, nachdem die jungen Männer aus dem Berichteten geschlossen hatten, dass die ältere Schönheit Schauspielerin in der aktuellen Telenovela “Avenida Brasil” sei. Nun wollten sie sich erst recht mit ihr in der Balada, der Disko, schmücken.

 

Ob jung oder alt, arm oder reich, quer durch alle Berufsgruppen: Die Begeisterung, die den blonden Fräulein entgegengebracht wurde, war für die Mädchen, die nach eigenen Angaben in Neuss nicht besonders auffallen, eine große Überraschung.

 

Da gab es mehrere Polizisten, die ihrer Faszination Ausdruck verliehen. Das sind doch Polizisten, dürfen die denn das?, wurde ich immer wieder gefragt. Doch was soll man darauf antworten.

 

Einmal gar stürzte ein beifahrender Bombeiro, ein Feuerwehrmann, fast aus dem Führerhaus, als er sich bei voller Fahrt hinauslehnte, um den Mädchen nachzuschauen.

 

Unzählige Motoboys, Boten auf dem Motorrad, hupten und riskierten für einen Blick ihr Leben, ebenso wie Lieferanten auf dem Fahrrad.

 

Ein BMW-Fahrer, der bei seiner Ausfahrt aus einem Parkhafen bereits fast mit einem Bus kollidiert war, trieb es auf die Spitze, denn er setzte auf einer viel befahrenen Einbahnstraße mehrfach zurück, um die Mädchen zu betrachten.

 

Unangenehm wurde keiner der bisweilen eifrigen Verehrer. Das unterscheidet die Paulistanos von ihren Geschlechtsgenossen in manch anderen Teilen der Welt. So genossen es die jungen Damen, die mein Mann, um ein Gegengewicht zu setzen, gern als kleine Kröten bezeichnete, als deutsches Fräuleinwunder bestaunt und hofiert zu werden.