Von der Lust am Abenteuer

Hätte ich nicht eine gewisse Neigung zum Abenteuer, wäre ich sicher nicht auf die Idee gekommen, meinen Mann nur 56 Tage nach unserer ersten Begegnung zu heiraten. Noch dazu vor dem Hintergrund, dass er weitere 26 Tage später nach Brasilien aufbrechen sollte. Ich tat es dennoch und ließ mich im Februar 2011 auf das nächste große Wagnis ein. Ich folgte ihm nach São Paulo.

Ein großer Schritt, denn zuvor hieß es, mich von meinem heißgeliebten Job als Pressesprecherin einer großartigen Klinik, die mein Leben über Jahre bestimmt und geprägt hatte, zu verabschieden. Ungewiss, wann ich der über 10.000 Kilometer entfernten Megacity wieder arbeiten könnte, denn zum einen schloss mein erstes Visum eine Berufstätigkeit aus und zum anderen war mir die neue Sprache gänzlich fremd, was insbesondere in meinem beruflichen Bereich einem Desaster gleichkommt.

 

Ich stürzte mich ins Abenteuer, lernte meinen Mann und die Megacity kennen. Mit Bahn und Bus erkundete ich mit meiner Freundin, die ich auf außergewöhnliche Weise während meines ersten Kurzaufenthalts in São Paulo im November 2010 kennengelernt hatte, die Stadt.

 

Nach nur einer Woche war ich erstmals auf mich gestellt, als Stadtführerin der Ehefrau eines der internationalen Chefs des Unternehmens, das mein Mann hier führt. Ein echtes Erlebnis, ohne Sprach- und Ortskenntnisse.

 

Auch wenn sich bereits die klassische Alltagsorganisation und -bewältigung durchaus aufregend und bisweilen aufreibend gestaltete, hielt sich die Abenteuerlust. Ich wollte meinem Mann all die Orte zeigen, die ich bereits kannte, und noch viel mehr entdecken.

 

An den Wochenenden unternahmen wir Touren zur Avenida Paulista, in die Innenstadt und zur Estação da Luz, mit dem Bus, für meinen Mann, den Autofahrer, bereits ein großes Abenteuer. Häufig dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich ein Bus kam, denn an den Wochenende verkehren die öffentlichen Verkehrsmittel, wie überall auf der Welt, in deutlich niedrigerer Frequenz. Das hatte ich, erfüllt von Entdeckungsfieber, nicht auf dem Zettel.

 

Auch waren die Ziele nicht besonders gut ausgewählt, denn sonntags präsentiert sich an vielen Orten der Megacity eine ganz andere Atmosphäre als während der Woche, wenn dort das Leben pulsiert. Nach einigen Wochen hatte mein Mann genug erlebt.

 

Ich konsultierte meine Sprachlehrerin, die, wenn ich ihr montags von unseren Wochenendausflügen erzählte, bisweilen etwas konsterniert dreinschaute. Jardins und Higienópolis, Orte der Bohème, seien wundervolle Ziele für Spaziergänge am Wochenende, berichtete sie. Die seien mit dem Auto auch weit besser zu erreichen.

 

Ihre Botschaft kam an. Ich modifizierte die Ausflugsplanung und wir genossen die Spaziergänge durch elegante Straßen mit beeindruckender Architektur, mondänen Geschäften und gut gekleideten Menschen.

 

Nach vielen innerstädtischen Exkursionen zog es uns in die Natur. Dass diese Ausflüge einer guten Vorbereitung bedürfen, wurde mir nach dem zweiten Fehlversuch klar, denn nicht jeder Trilha, jeder Wanderweg, ist ohne Anmeldung und zu jeder Zeit zugänglich. Heute bin ich in der Regel exzellent präpariert, bin mit Adressen, Öffnungszeiten und anderen relevanten Informationen ausgestattet. Inzwischen verfügen wir über einen Katalog von Lieblingsorten, die wir immer wieder besuchen.

 

Um meinen Mann bei der Stange zu halten, erweitere ich mein Repertoire ständig. Mal ist er ganz begeistert, wie beispielsweise von einem Sonntagskonzert, das wir kürzlich im Parque do Ibirapuera besuchten, mal blickt er bereits bei meinem Vorschlag eher missmutig drein.

 

Vor einigen Wochen nun hat mein Mann seine Leidenschaft für die Fotografie wiederentdeckt. Er begann damit, Fachzeitschriften zu studieren, las Testberichte, stöberte sich durch Foren und fing an, mit unserer Kamera zu experimentieren.

 

Diese neue Lieblingsbeschäftigung kam mir sehr zupass, denn länger schon trug ich mich mit dem Gedanken, den Jardim Botânico de São Paulo, den Botanischen Garten, gemeinsam mit meinem Mann zu erkunden. Nun, da war ich sicher, könnte ich ihm dieses Ziel schmackhaft machen, denn wo sonst könnte man bessere Blumendetails, ein Lieblingsmotiv meines Mannes, einfangen. Und tatsächlich, ohne jeden Widerspruch stimmte mein Mann dieser Tour zu. Er war gar begeistert von dieser Idee und komponierte vor Ort großartige Aufnahmen.

 

Fortan gehörte die Kamera zur Ausflugsgrundausstattung. Wie auch am vergangenen Wochenende, an dem etwas Erstaunliches geschah: Mitten auf der Avenida Santos Dumont, einer der großen Einfallstraßen in die Megacity, hielt mein Mann unvermittelt an und stieg aus. Bevor er den Versuch unternehmen konnte, die Straße zu überqueren, sprach ihn eine Polizistin an, die ihm erklärte, dass eine Überquerung an dieser Stelle viel zu risikoreich sei. Etwas enttäuscht kehrte er ins Auto zurück, denn so gern hätte er das in ein wundervolles Licht getauchte Edifício Altino Arantes (Banespão), eines der Wahrzeichen der Megacity, eingefangen.

 

Vielleicht 100 Meter weiter sah ich eine Brücke, perfekt geeignet, um das heiß ersehnte Foto zu schießen. Ich wies meinen Mann darauf hin, versäumte aber nicht, ihn darüber zu informieren, dass die Gegend nicht die beste sei. Das war ihm egal, er wollte dieses Foto machen. Und so stiegen wir aus und liefen, an abgelegten Schuhen und Kleidungsstücken vorbei, umweht von Uringeruch, auf die Brücke.

 

Nachdem zahlreiche preisverdächtige Fotos entstanden waren, traute ich meinen Ohren kaum, als mein Mann schließlich erklärte, dass wir uns demnächst einmal „down-dressen“ sollten, denn hier könnten wir sicher ausgezeichnete Fotos machen. Das aus dem Mund meines Mannes, der sich sonst beim Hauch von Periferia bereits mitten in der Favela wähnt.