São Paulo – Berlin – Bayreuth – Berlin – São Paulo oder die Frage nach der Heimat

„Buch doch endlich“, schrieb mein Mann vor noch nicht einmal drei Wochen, nachdem wir wenige Tage zuvor am Rande über einen spontanen Kurztrip nach Deutschland gesprochen hatten. 25 Jahre Abitur sollten am darauffolgenden Wochenende gefeiert werden. Wenn ich mir dies tatsächlich entgehen ließe, würde ich es ewig bereuen. Ich klickte auf „Buchung ausführen“ und realisierte in diesem Moment, dass ich in nicht einmal drei Tagen bereits im Flugzeug sitzen würde.

Mein Organisationstalent war gefragt, schließlich galt es, die Kolumne für die aktuelle Woche zu schreiben und mir zu überlegen, wann und wo ich die nächste verfassen würde, anstehende Termine wahrzunehmen oder zu verlegen, ganz praktische Dinge zu regeln und mich von der Friseurin und der Manicure im Salão de Beleza auf das anstehende Ereignis vorbereiten zu lassen, schließlich würde ich Brasilien repräsentieren, das Land, in dem gepflegte Nägel als ’fator cultural’ gelten. “Manicures brasileiras, as melhores do mundo!” – Brasilianische Maniküren, die besten der Welt. Und da die Nägel mindestens zwei Stunden trocknen müssen, bis die Hände wieder voll einsatzfähig sind, war die übrige Zeit entsprechend straff durchzuplanen.

 

Sechs Minuten bevor Sr. Claudinei, unser Taxista, eintraf, um mich zum Flughafen zu bringen, war alles erledigt. Inklusive mir.

 

Ich freute mich auf den langen Flug, der mir viel Zeit zum Ausruhen schenken würde. Doch es sollte anders kommen.

 

Noch bevor wir die Startbahn erreicht hatten, kam ich mit meinem Sitznachbarn, einem zwanzigjährigen jungen Mann, wie sich später herausstellen sollte, ins Gespräch. Ob es auch für mich nachhause ginge, wollte er wissen. Eine fast philosophische Frage – Wo ist mein Zuhause? In São Paulo oder in Berlin? Er selbst kehre nach einem Jahr in Australien und Neuseeland und sieben Wochen in Bolivien, wohin es seine Eltern während seiner Abwesenheit verschlagen hatte, nach Deutschland zurück, wo er nach seiner Zeit in Down Under und vor der Reise nach Südamerika nur einen kurzen, dreiwöchigen Zwischenstopp eingelegt hatte.

 

Zwei Abenteurer waren einander begegnet. Der junge Globetrotter entführte mich in das entspannte Australien, in die Weiten Neuseelands und in das wilde, unwegsame Bolivien, berichtete davon, wie er mit dem Auto gemächlich durch das Landesinnere Australiens gecruist war und nach einem schweren Regenschauer mit dem Bus für Tage in der Ödnis Boliviens feststeckt hatte, nahezu ohne Wasser und Brot, denn er und seine Eltern waren auf eine Tagesreise eingestellt gewesen.

 

Ich erzählte davon, wie ich innerhalb von nicht einmal vier Monaten meinem Leben in Berlin den Rücken gekehrt und in São Paulo ein neues begonnen hatte, von der pulsierenden, dynamischen Megacity, einem ganz anderen Südamerika als das, was er gerade verlassen hatte.

 

Nach gefühlt einer Stunde trafen wir in Madrid ein. An meinem Gate trennten sich unsere Wege, die mich nach Berlin und ihn nach Düsseldorf beziehungsweise Duisburg führten.

 

Drei Tage in meiner Stadt lagen vor mir, die schöner nicht hätten sein können. Ich habe jede Sekunde genossen – den Kurfürstendamm, zu dieser Jahreszeit einfach großartig, wieder international und vor allem endlich wieder glanzvoll, die stylische Kastanienallee im Prenzlauer Berg und das idyllische Wannsee, den Ort unseres Klassentreffens, das am Folgemorgen um 4.30 Uhr wieder am Kurfürstendamm endete.

 

Ich verbrachte vier Tage in Bayreuth, mit meiner Familie, genoss die fränkische Natur und Gerichte, die meinen Bruder, der eigens angereist war, und mich in unsere Kindheit zurückversetzten.

 

In jeder Hinsicht gestärkt ging es zurück nach Berlin, in die Stadt, in der ich die bislang längste Zeit meines Lebens gelebt habe. Ich besuchte Sehnsuchtsorte wie den Schlachtensee, aß, nachdem ich am ersten Tag in Berlin bereits Currywurst verspeist hatte, nun endlich einen Dürüm Döner, das beste Fast Food der Welt, und traf mich mit den Menschen, die mein Leben in den vielen Jahren in Berlin geprägt hatten. Manche hatte ich Weihnachten gesehen, andere, wie meine Klassenkameraden, zuletzt vor fünf Jahren – und doch fühlte es sich so an, als hätte ich alle erst gestern gesehen. Wie schön, wenn auch nicht ganz unanstrengend, denn in der Regel hatte ich drei bis vier Verabredungen pro Tag. Ich reiste von Charlottenburg bis Friedrichshain, von Mitte nach Schlachtensee, von Prenzlauer Berg bis Schöneberg, verblüfft, wie automatisch ich mich von A nach B bewege. Als hätte ich nie anderswo gelebt.

 

Doch ich lebe in São Paulo, und zu meiner großen Überraschung freute ich mich auf die Rückkehr, auf das Leben mit meinem Mann, auf die Megacity, auf die mich Berlin und New York bestens vorbereitet hatten.

 

Auf dem Rückflug, den ich neben einem eher unspannenden Ehepaar verbrachte, dachte ich an den jungen Abenteurer, an die Frage nach meinem Zuhause und stellte fest, dass ich in der sehr privilegierten Situation bin, zwei wundervolle Orte meine Heimat nennen zu dürfen. Hier wie dort ist mein Herz zuhause, ohne dass ich mich zerrissen fühlen würde.

 

Noch erfüllt von diesem Gedanken trat ich am Flughafen Guarulhos vor den Funcionário da imigração, Rafael, der einfach rührend war, wie auch die Disponentin am Taxistand, die zu dieser morgendlichen Stunde herzerfrischend gähnte und mich dabei anstrahlte. Ich bin zurück, ging es mir durch den Kopf, angekommen in meiner neuen Heimat.