55 é Henrique Madeira oder auch die Melodie von Alagoas

Fahnen säumten unseren Weg vom Guararapes International Airport in Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, bis nach Maragogi, unserem Reiseziel im benachbarten Alagoas. „Hier wird am 7. Oktober offensichtlich auch gewählt“, warf ich ein und setzte meinen Mann über mein durch die “Horário Político”, die politische Zeit, erworbenes Wissen ins Bild.

Mit Begeisterung sehe ich das “Programa eleitoral obrigatório”, die obligatorische Wahlsendung, die seit dem 21. August von Montag bis Samstag vor der Telenovela Avenida Brasil ausgestrahlt wird, denn die emotionsgeladenen Spots erinnern mich sehr an US-amerikanische Wahlwerbung. „Die Parteien, die den Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters, den Preifeito, stellen, haben zweistellige Nummern. Fernando Haddad, der zur Partei der aktuellen Präsidentin Dilma Rousseff und ihres Amtsvorgängers Luiz Inácio Lula da Silva gehört, hat die 13, José Serra die 45, Celso Russomanno hat die 10 und Gabriel Chalita die 15. Die Nummern der Vereadores, der Stadtverordneten, sind sehr lang und haben bis zu fünf Stellen“, führte ich aus.

 

Dass in São Paulo in etwas über einer Woche gewählt wird, könnte dem Newcomer leicht entgehen, denn Fahnen, Plakate oder andere sichtbare Vehikel der Wahlwerbung sind hier nahezu nicht zu sehen. Ganz anders in Alagoas. „Schau mal dort, ein Karnevalsumzug“, zeigte mein Mann in die Ferne. Auf einem umgebauten Truck, der sehr an die eindrucksvollen Wagen, die wir zu Karneval im Sambódromo, dem Sambadrom, in São Paulo gesehen hatten, erinnerte, tanzten fahnenschwenkende Menschen ausgelassen zu eingängiger Musik. Begleitetet wurde das abenteuerlich anmutende Fahrzeug von jubelnden Fußgängern, hupenden Autos und Motorrädern. Ganz wie zu Karneval, nur dass hier für Henrique Madeira, die Nummer 55, den Bürgermeisterkandidaten von Maragogi geworben wurde. „Jeden Samstag und Sonntag finden Paraden für die einzelnen Kandidaten statt, die hier an der Pousada vorbeiziehen“, erklärte Sandrijn van Hoof, ein Holländer, der zusammen mit Fernanda Duarte, seiner aus Minas Gerais stammenden Ehefrau, die Praiagogi Boutique Pousada betreibt, die für die kommenden zehn Tag unsere Oase der Ruhe sein sollte, bei unserer Ankunft. „Auch während der Woche fahren die Wahlwerbe-Autos, wenn auch mit weniger Spektakel, auf dem Weg in den Nachbarort São Bento hier vorbei“, berichtete er weiter. Das kann ja heiter werden, dachte ich bei mir und haderte mit meiner Wahl. Im Internet hatte die Pousada so idyllisch gewirkt und nun lag ihre Rückseite vielleicht 50 Meter von der Straße entfernt, wenn auch abgeschottet durch tropische Vegetation.

 

Ich machte meinem Herzen Luft, als ich meine Mutter und meine Freundin, wie vereinbart, über unsere Ankunft informierte, während mein Mann bereits im Paradies angekommen war.

 

Spätestens zum Abendessen kam auch ich dort an, denn die hochgerühmte Küche entsprach den Berichten, die ich im Internet gelesen hatte, wenn sie diese nicht noch übertraf. Unsere charmanten, weltgewandten Gastgeber, die ihr Handwerk in Holland erlernt und sich dort ineinander verliebt hatten, eroberten mein Herz im Sturm. Und als wir nach dem exzellenten Abendessen auf einer der ausgesprochen bequemen breiten Liegen unmittelbar auf das tosende Meer blickten und die warme Nacht genossen, war alles Hadern vergessen.

 

Wahrhaft paradiesisch war auch das Frühstück. Gefragt, welcher Saft für uns zubereitet werden sollte, wählten wir jeden Tag die Überraschung und erlebten so unbekannte Genüsse. Von Graviola über Cajá und Caju bis zu Umbu-cajá reichte das Spektrum, das uns Magna, die rechte Hand der Inhaber, nicht ohne Stolz präsentierte. Gern legte sie auch schon einmal selbst Hand an und schlug Kokosnüsse von den reich behangenen Kokospalmen der Pousada. „Früchte aller Art habe ich schon als Kind gern gesammelt oder mit einer der Machete abgeschlagen“, erklärte sie mit strahlenden Augen.

 

Nachdem in der von Arbeit bestimmten Megacity hinsichtlich des Zeitbegriffs eine gewisse Lässigkeit herrscht, die uns anfangs durchaus zu schaffen gemacht hatte, erlebten wir in Alagoas, das von holländischen und portugiesischen Einwanderern geprägt wurde, eine für uns Paulistanos ungewohnte Pünktlichkeit. Um 12.38 Uhr sollten wir am Flughafen abgeholt werden, der Fahrer war pünktlich vor Ort. Zu unserer ersten Tour sollten wir um 09.30 Uhr aufbrechen, unsere Abholung war bereits um 09.20 Uhr da. Selbst diese erste Tour, die wir in einer größeren Gruppe unternahmen, ging um Schag 10.00 Uhr los. Alle, einfach alle, waren stets überpünktlich. Da könnte sich so mancher Paulistano eine Scheibe abschneiden.

 

Wir schwammen in badewannenwarmen, kristallklarem, leicht türkisfarbenem Wasser, schlenderten an kilometerlangen, verlassenen Sandstränden entlang und erkundeten Dörfer, die ursprünglicher nicht hätten sein können, erlebten zurückhaltende, warmherzige Menschen. Besonders fasziniert waren wir von Rafaela, der Cozinheira unserer Pousada, die in effizienter Anmut in der offenen Küche die wohlschmeckendsten Genüsse kreierte. Robson, unser Garçon, entwickelte sich zur wohl größten Überraschung. Anfangs extrem umständlich und im Umgang mit uns Alemãos völlig verunsichert, entspannte sich der junge Mann von einem zum anderen Tag sichtlich. „Er muss verliebt sein“, kam mir in den Sinn. „Anders kann man sich diese plötzliche Veränderung auch nicht erklären“, sinnierte mein Mann. „Oder er hat kurz vor unserer Ankunft angefangen und bekommt langsam etwas Routine“, sagte er dann. Am zehnten, unserem letzten Abend übertraf sich der schüchterne Robson geradezu, als er, der Gastgeber des Abends, sich persönlich und verbindlich von uns verabschiedete.

 

Wir spürten auch die Leidenschaft der Alagoanos, denn auf dem Markt von Maragogi, knapp über zwei Kilometer von unserer Pousada entfernt, wurden von Früchten und Fischen, die wir nie zuvor gesehen hatten, bis zu lebenden Hühnern engagiert allerlei Waren angeboten. Übertönt wurden die Händler von Henrique Madeira, der Nummer 55, denn junge Männer fuhren auf mit überdimensionalen Lautsprechern ausgestatteten Fahrrädern, um Verkäufer und Kaufende über den besten Bürgermeisterkandidaten zu informieren. Zwischendrin etwa hüfthohe selbstgebaute ebenfalls mit Boxen versehene Spielzeugtrucks, die in gleicher Mission unterwegs waren.

 

Henrique Madeira begleitete uns bis zur Grenze Pernambucos, ja eigentlich bis nach São Paulo, denn noch heute singen wir die eingängige Melodie des Wahlkämpfers, die für uns immer auch die Melodie von Alagoas bleiben wird.