Wissenschaft Réveillon

„In Brasilien gibt es viele Silvesterbräuche“, hatte meine Freundin Tereza vor dem zurückliegenden Jahreswechsel berichtet. „Ich bin ganz sicher, dass Ihr auch im Terraço Itália mit dem ein oder anderen Brauch in Berührung kommen werden“, hatte sie ausgeführt. Schließlich hatte sie mir einen kurzen Überblick gegeben und ich versuchte, die Vielzahl an Silvester-Ritualen aufzunehmen und zu speichern, was mir in der Gänze allerdings nicht gelang. Einige „Handlungen“ glaubte ich tatsächlich im Rahmen unseres Silvester-Events bemerkt zu haben. In diesem Jahr wollte ich mehr wissen und studierte zahlreiche Quellen. Mein Ergebnis: Réveillon in Brasilien ist eine echte Wissenschaft.

Einige „Handlungen“ glaubte ich tatsächlich im Rahmen unseres Silvester-Events bemerkt zu haben. In diesem Jahr wollte ich mehr wissen und studierte zahlreiche Quellen. Mein Ergebnis: Réveillon in Brasilien ist eine echte Wissenschaft.

 

Speisen, die Glück bringen

Der Verzehr eines Esslöffels Linsen (lentilhas) genügt, um Geld im Überfluss beziehungsweise Wohlstand anzuziehen. Damit dies auch wirklich funktioniert, sollte dieser Glückslöffel Hülsenfrüchte die erste Nahrung sein, die im Rahmen des nächtlichen Imbiss konsumiert wird.

 

Auch Trauben (uva) wird eine große Kraft bescheinigt. Manche essen Trauben, andere deren Kerne. Üblich ist es, elf oder zwölf davon bis zum kommenden Jahreswechsel in der Geldbörse aufzubewahren, um sicherzustellen, dass stets genug Geld darin ist. Mancher platziert dort zusätzlich oder stattdessen ein Lorbeerblatt, das ebenfalls als Glücksgarant gilt.

 

Nicht ausschließlich als Symbol für Wohlstand steht der Granatapfel (romã). Auch die Fruchtbarkeit soll dieser positiv beeinflussen. Wieder ist die Anzahl der Kerne entscheidend. Je mehr, desto besser. Und wieder etwas für die Geldbörse – kein Wunder, dass die in Brasilien in der Regel deutlich größer ausfällt als beispielsweise in Deutschland: Sieben Kerne – hier kommt die heilige Zahl zum Einsatz – sollten dort für ein Jahr aufbewahrt werden. Sollte damit auch das große Portemonnaie zu platzen drohen, hilft ein weiterer Silvesterglaube, der anrät, einen Geldschein im Schuh zu verstauen. Die Energie betrete den Körper, laut einer entlehnten orientalischen Weisheit, durch die Füße. Dementsprechend würde Geld im Schuh mehr und mehr Reichtum bringen.

 

Zu Silvester ist Truthahn (peru), anders als zu Weihnachten, absolut tabu. Ebenso der Genuss jeder anderen Form von Geflügel (aves). Auch Krebse (caranguejo) sollten gemieden werden, denn all diese Tiere haben die Angewohnheit, sich bei der Nahrungssuche rückwärts zu bewegen. Entsprechend wird angenommen, dass sich das Leben desjenigen, der sie verzehrt, nicht nur nicht weiter, sondern gar zurückentwickelt.

 

Schwein (porco) beziehungsweise Spanferkel (leitão) gilt als “portador da sorte”, als Glücksträger, und Wohlstandsbringer. Das Tier, das seine Schnauze stets nach vorn streckt, sollte das Silvesterhauptgericht sein. So wird sich auch das Leben des Schweineessers positiv nach vorn entwickeln. Eine Quelle behauptet gar, dass mit dem Verzehr des Glücksschweins die Schränke das gesamte Jahr über reich gefüllt seien.

 

Maßnahmen zur Glücksmaximierung

Durch die magischen Speisen frisch gestärkt, kann die Party beginnen. Denn dem persönlichen Glück kann jeder Einzelne nach Mitternacht weiter auf die Sprünge helfen, unabhängig davon wo gefeiert wird.

 

Wer das neue Jahr auf dem rechten Fuß beginnt, der zieht gute Entwicklungen für sein Leben an. Zur Legitimation dieses Aberglaubens wird sogar die Bibel herangezogen, nach der, so das Almanach der Silvesterbräuche, alles, was rechts sei, gut sei. Wie dem auch sei: Konzentration erfordert die Erfüllung dieses Glücksregel ganz bestimmt.

 

Mit einem Glas Sekt oder Champagner in der Hand drei Mal in die Höhe zu hüpfen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, verlangt ein hohes Maß an Geschicklichkeit. Anschließend gilt es, das Getränk mit Schwung und ohne Unterbrechung hinter sich zu schütten, ohne hinzusehen. Auf diese Weise lässt derjenige, der dieses Spiel absolviert, alles Schlechte hinter sich. Nur keine Sorge, falls die Schaumweindusche andere Umstehende benetzt, denn denen ist, ohne dass sie auch nur etwas tun, Glück durch das gesamte kommende Jahr hinweg garantiert.

 

Auch beliebt ist es, nach Mitternacht auf einen Stuhl oder eine andere Erhöhung zu steigen. Diese Aktivität, so die Überlieferung, gebe den Impuls dazu, auch im Leben weiterkommen zu können. Klar, dass der Aufstieg nur mit dem rechten Fuß funktioniert.

 

Wer, wie viele Brasilianer, den Jahreswechsel, der mitten in die „Sommerferien“ fällt, am Strand feiert, ist dazu aufgerufen, dort Kerzen für Iemanjá, ein Göttin der Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, anzuzünden. Auch wer Rosen auf das Meer, dessen Herrscherin Iemanjá ist, wirf, tritt mit ihr in Interaktion. Und das lohnt sich, denn sie beschützt diejenigen, die an sie glauben, schenkt ihnen Gesundheit, Liebe und Geld während der gesamten Jahres.

 

Ein weiteres Ritual stammt ebenfalls aus der Candomblé: Es gilt, die sieben Wellen des Meeres zu überspringen. Hier wird einmal mehr die heilige Zahl bemüht, die im Candomblé durch Exu, den Sohn Iemanjás, repräsentiert wird. Die sieben Sprünge dienen dazu, dem Glück die Wege zu öffnen – in der Gewissheit, dass dies in der Zukunft garantiert ist. Niemals sollte man dem Meer den Rücken zuwenden. Das wäre schließlich einer Gottheit gegenüber äußerst respektlos.

 

“Não adianta negar, todo brasileiro é um pouco supersticioso” (Es ist nicht abzustreiten, dass alle Brasilianer ein wenig abergläubisch sind)

Der Hang zum Aberglauben manifestiere sich, laut der Journalistin und Bloggerin Camila Bertolazzi, insbesondere zu Silvester.

 

eCGlobalnet, ein globales Netzwerk, das registrierten Nutzer die Möglichkeit eröffnet, unmittelbar mit Unternehmen, Marken und Dienstleistern zu interagieren und auf diese Weise Entscheidungen am Markt mitzugestalten, hat das Phänomen untersucht.

 

Wie verbreitet der Aberglaube in Brasilien tatsächlich ist, wollte das Netzwerk herausfinden und führte im Dezember 2012 eine Befragung durch: Ganze 52 Prozent, also über die Hälfte der Brasilianer, gaben an, an diverse “superstições” glauben. 35 Prozent, so fand man heraus, sind von der Wirksamkeit der zu bestimmten Zeiten praktizierten Rituale überzeugt.

 

Ein klares Ergebnis, das mich nach 20 Monaten Brasilien und einem hier erlebten Silvester nicht wirklich verblüfft, sondern eher amüsiert. Unfassbar zu welch absurden Handlungen Menschen bereit sind, um Reichtum und Glück „herbeizuzaubern“.

 

Als ich meinem Mann erheitert von meinen Recherchen erzählte, war der ganz fassungslos: „Ist klar, 1000 Kerne im Portemonnaie tragen – in der Hoffnung darauf, dass die den ganz großen Geldsegen bringen. Wie wär’s denn mal mit Arbeit!“