Im Kontext des 459. Geburtstags der Stadt São Paulo am 25. Januar führte das renommierte Meinungsforschungsinstitut IBOPE (Instituto Brasileiro de Opinião Pública e Estatística) eine repräsentative Untersuchung zur Lebensqualität in der Stadt durch, die ergeben hat, dass die überwiegende Mehrheit der Paulistanos mit dem Leben in der Stadt unzufrieden ist.
Auf einer Skala von 1 bis 10 wurden für die Lebensqualität 4.7 Punkte vergeben. Dies ist das schlechteste Ergebnis seit Beginn der Umfrage vor vier Jahren.
Die öffentliche Sicherheit hat sich als eine der größten Sorgen der Paulistanos herausgestellt. Laut der Umfrage glauben 91 Prozent der Befragten, dass es wenig oder gar nichts sicher ist, in der Stadt zu leben. Der Punkt, der von den meisten Befragten in diesem Zusammenhang genannt wurde, war „Gewalt im Allgemeinen“, gefolgt von „Raub/Diebstahl“.
56 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass sie die Stadt verlassen würden, wenn sie könnten.
Von 169 Nennungen bekamen 82 Prozent negative Bewertungen. Auch die Hauptthemen der Stadt wurden negativ bewertet: Bildung erhielt einen Notendurchschnitt von 4,8 – im vergangenen Jahr lag dieser bei 5. Die Note für den Gesundheitsbereich fiel von 5,1 auf 4,8. Die Stadtverwaltung wurde von 35 Prozent als schlecht oder sehr schlecht eingestuft.
Die Umfrage zeigte auch ein geringes Maß an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Diejenigen, denen das höchste Maß an Misstrauen entgegengebracht wird, waren der Stadtrat (69%), der Rechungshof der Stadt (64%), die Polícia Civil (60%) und die Polícia Militar (60%).
Zur Untersuchung befragt, unterstrich der 49-jährige Fernando Haddad, der am 1. Januar 2013 als Bürgermeister vereidigt wurde, die Komplexität der zu lösenden Probleme und fügte scherzhaft hinzu, dass Bürgermeister von São Paulo zu sein, in die Liste der Extremsportarten aufgenommen werden sollte (“Deveria ter na lista de esportes radicais: prefeito de São Paulo”.)
Ein so vernichtendes Urteil hätte ich selbst in meiner akuten Heimwehphase im vergangenen Dezember über São Paulo nicht gefällt. Wie sehen die Menschen in meinem Umfeld die Megacity? Beurteilen die Deutschen, Schweizer, Paulistanos, Cariocas, mit denen ich unmittelbar in Verbindung stehe, die Stadt ebenso kritisch, wie die Teilnehmer der repräsentativen Umfrage?
16 ganz persönliche Meinungen zur Megacity
Sönke Böge (*1938) Unternehmerberater, Networker - seit 1976 in SP
Stadtteil: Jardim Marajoara, Geburtsort: Kiel, Stationen: Hamburg, Santiago de Chile (10 Jahre), Buenos Aires (3 Jahre), Lima (1 Jahr), Rio de Janeiro (2 Jahre), Zusatz: Die Kinder und Enkelkinder sind in São Paulo geboren.
„Für mich ist São Paulo weltweit die Stadt mit der stärksten Persönlichkeit. Sie polarisiert, denn man kann sie nur lieben oder hassen. Sie zerreißt einen und bietet gleichzeitig Orte der Ruhe und des Friedens. Sie ist unglaublich dynamisch, vielfältig, abwechslungsreich – ein Kaleidoskop. Hier hat man alles, wenn man die Bedingungen der Stadt akzeptiert.
Die verschiedenen Welt liegen dicht beieinander – die Sala São Paulo, die Stätte der Hochkultur, ist nur wenige Meter von Cracolândia, der Drogenhölle der Stadt, entfernt und doch liegen Galaxien dazwischen.“
Heloisa Bruck Pereira (*1958) Vereidigte Übersetzerin, Englisch für Erwachsene; Portugiesisch für Ausländer - Paulistana
Stadtteil: Brooklin, Geburtsort: Marília (São Paulo), Stationen: London (2 Jahre)
„Die unkomplizierte Verfügbarkeit all dessen, was ich brauche, schätze ich sehr, ebenso die Servicequalität. Die Privatsphäre, die die Stadt ermöglicht – die Tatsache, dass sich niemand in das Privatleben einmischt – begrüße ich. Auch denke ich, dass die religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Vielfalt in São Paulo positiv hervorzuheben ist.
Negativ sind der Schmutz, die schlecht gepflegten öffentlichen Anlagen – die Bürgersteige, Plätze und Straßen. Weitere ernste Probleme sind die Gewalt, die Armut auf den Straßen der Stadt, die Bettler, die Straßenkinder und die vielen Drogenabhängigen.“
Ursula Altenbach (*1958) Künstlerin - seit 1999 in SP
Stadtteil: Alto da Boa Vista, Geburtsort: Luzern, Stationen: Saudi-Arabien, Zürich, Rio de Janeiro, Stuttgart, Kopenhagen, São Paulo
„São Paulo ist eine Metropole mit vielen Gesichtern. Auf den ersten Blick erscheint sie als gnadenlose, alles verschlingende Macht. Doch ich habe mich hier von Anfang an sehr wohlgefühlt, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen internationalen Clubs, die Austausch und Hilfestellung bieten. Auch ich habe mich gerade in der letzten Zeit im INC (The International Newcomers Club of São Paulo) engagiert und habe bei den Newcomern, die ich persönlich betreut habe, ganz unterschiedliche Reaktionen auf die Stadt erlebt – von Irritation bis Faszination reichte das Spektrum.
Mich persönlich fasziniert die multikulturelle Stadt sehr. Kunst, Theater, Musik, Kulinarik befinden sich hier auf höchstem Niveau. In diesen Bereichen steht São Paulo New York in nichts nach.
Sicher, es gibt auch die ein oder andere Schattenseite – der Verkehr ist unbeschreiblich und auch der Zustand des öffentlichen Systems ist beklagenswert – auch wenn sich hier in den vergangenen Jahren bereits einiges getan hat. Meine Kinder, die inzwischen in der Schweiz leben, sind hier aufgewachsen. Für sie ist São Paulo ihre Heimat.“
Vera G. von Sothen (*1959) Heilpraktikerin (arbeitet vorwiegend mit Bachblüten und Jin Shin Jyutsu) - seit 1982 in SP
Stadtteil: Alto da Boa Vista, Geburtsort: Brüssel, Stationen: Brüssel (1959), Genua/Italien (1960-1963), Lima/Peru (1964-1967), Rio de Janeiro (1967), Bonn/Bad Godesberg (1967-1970), Asuncion/Paraguay (1970-1975), Rio, Hamburg (1978-1981), Rio (1981)
„São Paulo ist einerseits eine faszinierende Stadt: wegen der Vielfalt; wegen des Angebots, wegen des Adrenalins, wegen der Möglichkeiten, die sie bietet, wegen des internationalen Flairs. Andererseits ist São Paulo wie ein Vampir, der sich von unserer Energie ernährt.
Vorige Woche sind wir aus den Ferien zurückgekommen. Wir waren im Nordosten, in Maceio und Salvador und in Barretos im Landesinneren São Paulos. Mir fiel auf, wie viel schneller ich sein musste, um mich wieder dem Rhythmus dieser Stadt anzupassen. Sonst würde ich nicht mitkommen und überfahren, überrumpelt werden. São Paulo laugt einen aus!“
Hans Dieter Temp (*1964) Betriebswirt, Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik; Gründer der Organisation “Cidades sem Fome” („STÄDTE OHNE HUNGER“) - seit 1998 in SP
Stadtteil: Aricanduva, Geburtsort: São Borja (Rio Grande do Sul) – Deutsch-Brasilianer der dritten Generation, Stationen: Rio de Janeiro (10 Jahre), Tübingen (3 Jahre)
„In der Peripherie von São Paulo habe ich wunderbare Menschen mit viel Potential kennen gelernt. Zahlreiche dieser arbeitssamen Menschen sind vor Jahrzehnten der Dürre und dem Hunger im Nordosten des Landes entflohen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Megacity. Diese erste Generation der Neuankömmlinge hat sich angestrengt, damit das Elend durchbrochen wird, hat alles daran gesetzt, den eigenen Kindern ein Studium und damit bessere Jobs zu ermöglichen. Das finde ich großartig. Nun benötigt die Generation der Väter und Mütter eine kleine Hilfe, damit sie wieder laufen kann und auch im Alter in der neuen Heimat zurechtkommt. Hier setzen wir mit unserer Arbeit an.
São Paulo hat viel zu bieten. Jeden Tag treffen hier Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammen. Die verschiedenen Einflüsse sind eine Bereicherung für die Stadt. Mein Wunsch ist es, ein Sozialprojekt anzustoßen, das so viele Kulturen wie möglich einbindet.“
Marcelo Greco (*1966) Fotograf - Paulistano
Wohnort: Granja Vianna in Carapicuiba (São Paulo), Geburtsort: São Paulo, Stationen: Rom (1 Jahr) und zahlreiche Reisen innerhalb Europas und den USA
„Für mich ist São Paulo eine ausgesprochen spannende Stadt. Sie ist hässlich und gleichzeitig interessant – mit ihrem ganz eigenen Charme. Manchmal ist sie grausam und dann wieder sehr großzügig mit Menschen aus allen Teilen dieser Welt. Ihre wohl bemerkenswerteste Eigenschaft ist das Gefühl von Einsamkeit, das mit ihr verbunden ist. Über 11 Millionen Menschen leben in der Stadt. Doch jeder von ihnen ist isoliert, allein, eingeschlossen in seiner eigene Welt.“
Eliene Santana Silva (*1973) Haushaltshilfe - seit 1995 in SP
Wohnort: Jardim dos Álamos (Parelheiros, São Paulo), Geburtsort: Salvador da Bahia
„In São Paulo gibt es Arbeit, aber auch Freizeitmöglichkeiten. Mit meinen Kindern mache ich gern Ausflüge. Schlecht ist es, mit der Metrô oder dem Omnibus zu fahren. Da ist es sehr eng. Man fühlt sich wie in einer Sardinenbüchse. Auch die Gewalt ist schlimm. Und für die Kinder und Jugendlichen wird zu wenig getan. Die Regierung sollte mehr Geld für Schulen, Ausbildung, Kurse und für die Gesundheit ausgeben.“
Valeria Belitz França (*1972) Ökonomin - seit 2000 in SP
Stadtteil: Morumbi, Geburtsort: Rio de Janeiro (als Tochter einer deutschen Mutter)
„Wenn ein Paulistano oder eine Paulistana erfährt, dass ich “Carioca” bin (aus Rio de Janeiro stamme), werden mir unmittelbar folgende Fragen gestellt: „Warum um alles in der Welt hast Du Rio verlassen? Vermisst Du die Strände nicht?“ Nun, ehrlich gesagt vermisse ich sie nicht, doch manchmal habe ich Sehnsucht nach Lagoa und den umliegenden Bergen [Lagoa –Lagune- ist ein Viertel mit vielen Parks und Plätzen in der Südzone Rio de Janeiros].
Ich betrachte es als großes Privileg, den Ozean und den weichen Sand der Copacabana als „Garten“ meiner Kindheit bezeichnen zu können. Doch im Erwachsenenalter begann ich mich nach einer kosmopolitischeren Atmosphäre zu sehnen. Rio ist geprägt vom Tourismus, seinen Stränden und der Sonne, São Paulo hingegen ist die Businessmetropole Südamerikas. Als sich die Möglichkeit ergab, mich hier beruflich zu etablieren, habe ich die Chance genutzt. Ich wurde freundlich, mit offenen Armen empfangen und habe mich hier stets zuhause gefühlt. Danke, São Paulo!“
Marcelo Fraenkel (*1976) Diplom-Jurist, Übersetzer - seit 2011 in SP
Stadtteil: Campo Limpo, Geburtsort: Coesfeld (NRW), Stationen: Coesfeld, Braunschweig, Berlin, München (25 Jahre), São Paulo (9 Jahre), USA und England, Zusatz: Die Eltern sind gebürtige Paulistanos.
„Im sogenannten Land der Gegensätze hat auch São Paulo seine Gegensätze: Der Unterschied zwischen der „Periferia“ – den die Stadt umschließenden Außenbezirken – und den wohlhabenden Stadtteilen um den (seinerseits heruntergekommenen) Stadtkern könnte größer nicht sein: leere Straßen und eingezäunte (-mauerte) (Hoch-)Häuser auf der einen Seite – Musik, Einfachheit, Offenheit, Freundlichkeit und eine bestimmte Natürlichkeit, mit der sich die weniger privilegierte Schicht ohne Klagen über Wasser hält, auf der anderen Seite. Man könnte vereinfacht auch sagen: In der Periferia São Paulos ist (insbesondere an den Wochenenden) das ganze Jahr über Karneval. Trotz Nachteilen wie größerer Armut und einem geringen Bildungsniveau ziehe ich persönlich die Periferia vor.“
Rafael Ferreira dos Santos (*1981) Taxifahrer - Paulistano
Stadtteil: Jardim Marajoara, Geburtsort: São Paulo
„Positiv ist die Erreichbarkeit aller Orte. Es gibt eine große Auswahl an Freizeitangeboten und Restaurants. Auch das (meteorlogische) Klima ist die Stadt ist ein großer Pluspunkt. Negativ sind der Verkehr und der Mangel an Sicherheit.“
Victoria Bruck Pereira Olivares (*1991) Studentin - Paulistana
Stadtteil: Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„Ich schätze die vielfältigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, das große Angebot an Freizeitmöglichkeiten und die außerordentliche kulturelle Vielfalt der Stadt. São Paulo ist jedoch eine sehr gefährliche Stadt, was mich persönlich ungemein stört. Auch ist die Stadt sehr teuer und die öffentlichen Verkehrsmittel lassen sehr zu wünschen übrig.“
Lucilene F. Nascimento (*1992) Kassiererin - Paulistana
Stadtteil: Grajaú, Geburtsort: São Paulo
„São Paulo bietet eine große Vielfalt an Möglichkeiten, in der Stadt hat man wirklich alles. Auf der anderen Seite empfinde ich São Paulo als wenig gemütlich oder freundlich. Die Menschen sind ausgesprochen fixiert auf ihre Arbeit und sehr gestresst. Beklagenswert ist auch die Vernachlässigung der “Periferias”, der Außenbezirke.“
Carlos Augusto Bruck Pereira Olivares (*1995) Schüler - Paulistano
Stadtteil: Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„In São Paulo kann man viele Dinge unternehmen wie in Parks oder ins Kino gehen. Auch abends gibt es zahlreiche Möglichkeiten auszugehen. Das gefällt mir an der Stadt. Mich stört, dass São Paulo sehr gefährlich ist, eine hohe Kriminalitätsrate hat und sehr teuer ist.“
Philipp Fayterna (*1997) Schüler - seit 2012 in SP
Stadtteil: Jardim Marajoara, Geburtsort: Heidelberg, Stationen: Heidelberg (1997-1999), Frankreich (1999-2000), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Für mich ist São Paulo eine dreckige und riesige Stadt, in der auch Gewalt eine so große Rolle spielt, dass man sich schon Sorgen um sich selbst machen muss.
São Paulo hat im Vergleich zu anderen Metropolen (Shanghai, selbst gesehen) viel Grün, d.h. viele Parks und kleine „Dschungel“. Aber zum Leben ist diese Stadt nicht so geeignet, denn durch die vielen Hochhäuser ist der Wohnraum deutlich kleiner.
Gut finde ich, dass die Stadt versucht, die Favelas nach und nach abzubauen und den Verkehr zu retten. Das ist aber sehr schwierig.“
João Pedro Henrich (*1997) Schüler - seit 2012 in SP
Stadtteil: Vila Mascote, Geburtsort: Bonn, Zusatz: Die Mutter ist Brasilianerin, der Vater Deutscher.
„São Paulo ist eine sehr lebendige Stadt und das ist einer der Punkte, die mir nicht sehr gefallen, wie auch die Hochhäuser. Aber São Paulo hat auch Vorteile, wie zum Beispiel die Wärme der Menschen, die mit dir ausgehen und sich mit dir unterhalten, obwohl sie dich gar nicht kennen. Das Essen gefällt mir auch sehr gut und dass man hier viel Sushi isst. Das habe ich übrigens zum ersten Mal in São Paulo probiert!
In São Paulo habe ich schnell eine Menge Freunde gefunden, mit denen ich immer ausgehe und mich amüsiere.“
Max Fayterna (*1999) Schüler - seit 2012 in SP
Stadtteil: Jardim Marajoara, Geburtsort: Senlise (Frankreich), Stationen: Frankreich (1999), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Ich finde es in Brasilien einfach nur genial, denn man kommt meist zügig an den Strand und man findet schnell Aktivitäten im Landesinneren. Trotz der Armut und der Gewalt finde ich die Menschen hier sehr freundlich.
Für mich wäre es sehr interessant, einmal durch eine sogenannte “Comunidade” (Favela) zu fahren, denn dort war ich noch nie. Gehört habe ich, dass dort alles sehr eng, auf kleinstem Raum, sein soll. Ich persönlich mache mir eigentlich wenig Gedanken, dass ich oder meine Familie überfallen werden. Trotzdem vermeiden meine Eltern natürlich die Wege an einer “Comunidade”.“