Wie ich auf eine lebende Legende traf

Es war heiß an diesem 12. Februar 2013, dem letzten Tag der Karnevalswoche, als wir durch die menschenleeren Straßen des Stadtzentrums liefen. Wir waren aufgebrochen, um die ausgestorbene Megacity fotografisch festzuhalten. Keine besonders gute Idee, denn die Sonne brannte und die schwüle Hitze setzte uns zu.

Plötzlich liefen wir an einer kleinen, gelungen restaurierten Stadtvilla vorbei, aus deren Innenräumen eine angenehme Kühle drang. German Lorca war auf einem Banner zu lesen, das - ob völliger Windstille - bewegungslos an der Hauswand hing. Casa da Imagem stand auf einer kleinen Plakette, die am Eingang angebracht war. Ohne zu wissen, was uns erwartete, gingen wir hinein, schon um der Hitze zu entfliehen.


Allein das Gebäude ist einen Besuch wert, dachte ich bei mir, während wir die Treppe hinaufstiegen und zarte, mühevoll rekonstruierten Fresken an Wänden und Decke bewunderten. Nach vielen ungeheuer schlechten Ausstellungen, die wir während unseres ersten Jahres in der Stadt besucht hatten, erlebten wir in diesem Moment eine Offenbarung: Nicht nur, dass uns die Fotokunst German Lorcas begeisterte. Die 89 Schwarzweiß-Fotografien des Künstlers und Chronisten, die zwischen den 1940er und 1970er Jahren aufgenommen wurden, waren eindrucksvoll in Szene gesetzt und zogen uns in ihren Bann.


Im August 2013 stießen wir wieder auf German Lorca – im Rahmen der SP-Arte/Foto, der nach Veranstalterangaben bedeutendsten Fotografie-Messe Lateinamerikas im Shopping JK Iguatemi, die wir bereits zum zweiten Mal besuchten. Als wir Aeroporto de Congonhas sahen, war es um uns geschehen. Diese Fotografie Lorcas im Format von etwa 30x45 Zentimetern, die auf stimmungsvolle Weise Wartende am innerstädtischen Flughafen in der Südzone São Paulos abbildet, wäre eine besondere Erinnerung, wenn wir die Stadt eines Tages verlassen, dachte ich. Meinem Mann ging es offensichtlich ähnlich, denn er bat mich, den Preis zu erfragen.


Ich trat also an den langen Tisch in unmittelbarer Nähe der Fotografie, etwas verwundert darüber, dass der Galerist sehr alt zu sein schien, und fragte ihn, ob er mir den Preis der Fotografie dort drüben an Wand notieren könne, denn mit großen Zahlen auf Portugiesisch tue ich mich auch heute noch schwer. Der Mann nahm also einen kleinen grauen Zettel – die Rückseite einer Angabe zu einem bereits verkauften Kunstwerk - und notierte in zitteriger Schrift: Aeroporto 65 Congonhas - SP. Er berichtete, dass es sich bei diesem Foto um einen Originalabzug handele und vieles mehr. Als ich einhakte, um ihn nochmals nach dem Preis zu fragen, wurde unser Gespräch von einer gestrengen Galeristin jäh unterbrochen. Fast unhöflich erkundigte sie sich nach meinem Anliegen, das ich sogleich darlegte. Wir bewegten uns in Richtung der besagten Fotografie und sie nannte mir den Preis, der dem eines einfachen Mittelklassewagens entsprach. Ich verbarg meinen Schock, dankte höflich und ging zu meinem Mann, um ihn über meine Erkenntnisse ins Bild zu setzen. Bedauernd kamen wir überein, dass wir von dieser Investition absehen würden.


Wenig später trafen wir einen befreundeten Fotografen, der uns nach unseren Eindrücken befragte. Wir wären auf eine Fotografie von German Lorca gestoßen, die uns begeistert hätte, erklärte ich und wollte gerade fortfahren, als der Fotograf einhakte. Lorca sei heute anwesend, ob wir ihn getroffen hätten, erkundigte er sich. Er säße am Stand, der Galerie, die ihn vertrete. Er sei sehr alt – 92 Jahre - und trüge eine Leica um den Hals. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte eine lebende Legende der zeitgenössischen brasilianischen Fotografie nicht etwa zu seiner Kunst befragt, sondern nach etwas so profanem wie dem Preis eines seiner Werke. Monate später noch sprachen wir darüber. Den kleinen grauen Zettel habe ich bis heute – als Erinnerung an ein ganz besonderes Erlebnis.


Anfang Dezember – ich hatte gerade Sprachunterricht – rief meine Freundin Tereza an. Ich müsste mich sofort hinsetzen, sie habe unglaubliche Neuigkeiten für mich. Ich hätte Unterricht, entgegnete ich. Das sei völlig egal, ich solle mich einfach nur setzen und ihr zuhören, insistierte sie aufgeregt. Ich tat es und war gespannt, denn so kannte ich Tereza nicht. Sie sei gerade Silvio Pinhatti, der ein Fotolabor in unmittelbarer Nähe betreibe, begegnet. Silvio würde die Prints berühmter Fotografen wie Sebastião Salgado für Ausstellungen produzieren und er habe ihr, nachdem sie von unserer Liebe zu German Lorca erzählt hatte, berichtet, dass er zwei signierte Originalprints von ihm besäße und sich unter Umständen davon trennen würde. Wir könnten die Prints noch in dieser Woche ansehen. Silvio habe angedeutet, dass er sie zu einem fairen Preis anbieten würde, berichtete Tereza. „Großartig, ich kann jederzeit“, erklärte ich und dankte ihr überschwänglich, denn diese Nachricht kam zur rechten Zeit. Sechs Wochen später stand der 50. Geburtstag meines Mannes an. Eine Originalfotografie von German Lorca wäre das perfekte Geschenk zu diesem besonderen Anlass.


Vier Tage später standen wir vor Silvio Pinhattis riesigem Planschrank und betrachteten andächtig die beiden Originale – eine kontrastreiche Fotografie eines Pferdekarussells und die Aufnahme “Menina na Chuva”, „Mädchen in Regen“, die ein kleines Mädchen im São Paulo der 1950er Jahre mit Regenschirm zeigt, während es auf einen Bürgersteig springt. Diese Szene, die durch die Gebäude im Hintergrund auch die Stadt portraitiert, berührte mich.


Nicht weniger berührend war die Geschichte, wie Pinhatti zu diesen beiden Fotografien gekommen war. Lorca, so berichtete er, habe damals seine erste Ausstellung vorbereitet. Allerdings hätten ihm die Mittel gefehlt, die großformatigen Abzüge der Fotografien in Auftrag zu geben. So habe er ihn gebeten, diese zu produzieren und bot im Gegenzug an, dass Pinhatti zwei Abzüge behalten könne und diese, wenn er einmal berühmt sei, verkaufen könne. 61 Jahre lägen die signierten Abzüge nun in seinem Planschrank, denn er tue sich schwer, sich von ihnen zu trennen. Doch da wir so glühende Verehrer German Lorcas seien, könne er sich vorstellen, sie uns zu überlassen, sagte er und unterbreitete ein Angebot, das deutlich unter dem für Aeroporto de Congonhas lag. Aber es handelte sich eben auch um eine Fotografie, von der ich nicht wusste, ob sie meinem Mann gefallen würde.


Ich konsultierte den befreundeten Fotografen, denn es war klar, dass ich das Bild bei Nichtgefallen nicht einfach würde zurückgeben können. Pinhatti sei sehr renommiert, erklärte der Fotograf. Nach dem, was ich berichtete, sei der Kauf eine gute Investition in zeitgenössische Fotokunst.


Schließlich kontaktierte ich auch die Schwester meines Mannes, die meinen Mann eindeutig länger kennt, als ich dies tue. Sie riet mir, ihn in die Entscheidung einzubeziehen, was ich auch tat.


Am 17. Januar 2014 wurde die gerahmte Fotografie geliefert. Wir erfreuen uns jeden Tag an dieser bewegenden Straßenszene, die im Rahmen eines Projekts des Foto Cine Clube Bandeirantes entstanden war, dem Lorca 1949, noch vor der Gründung seines eigenen Studios im Jahr 1952, beigetreten war.