© privat –
v.l.n.r. (oben): Judith Freuthal, Leda Cruz Gatto, Christine Peters; unten: Helga
Siewert, Familie Kirst, Familie Schatz
Das
Projekt Lebensläufe ist im Rahmen des
folgenden Buchs entstanden:
Die Herausforderungen deutscher Einwanderer in Brasilien: Erfahrungen von Deutschen erzählt auf Basis der Geschichte des Deutschen Hilfsvereins zu São Paulo [1]
[1] Autorin: Esther K. Beuth-Heyer
Übersetzung ins Portugiesische: Eline de Assis Alves
*10.03.1922
Geburtsort: Bremen
Einwanderung nach Brasilien: 1948
„Mit zehn Jahren, im Gymnasium, zählte ich zu den drei besten Schülern. Das
erinnere ich genau, denn diese Schüler mussten kein Schulgeld zahlen. Kurz bevor ich elf Jahre alt wurde, kam Hitler an die Macht. Plötzlich hatten wir uniformierte Lehrer. Mein Klassenlehrer hat
immer auf die Juden geschimpft. Zu mir sagte er schließlich: „Du kannst ja nichts dafür, aber ich möchte Dich bitten, nicht mehr an den Morgenandachten teilzunehmen“. Dann stand ich armes
Würstchen vor der Tür, wenn die anderen wieder herauskamen. Das war sehr unangenehm. Meine schulischen Leistungen sind in dieser Zeit deutlich abgefallen.
Mein Vater ist als Sohn einer jüdischen Familie 1881 im damals deutschen
Kattowitz in Oberschlesien geboren und hatte sich 1904 in Bremen niedergelassen. 1920 hat er meine Mutter Helene, die aus Frankfurt am Main stammte und evangelisch aufgewachsen war,
geheiratet.
Meine Mutter ist aus der Kirche ausgetreten. Auch mein Vater war nicht religiös. Das hatte zur Folge, dass auf meiner Geburtsurkunde keine Religion eingetragen war. Da stand nicht etwa mosaischen Glaubens, nein, da war einfach ein Strich. Das war mein großes Glück, dieser Strich hat mir das Leben gerettet. Ich erinnere mich an Kinder, die, wie ich, aus gemischten Ehen stammten. Die sind sofort verschwunden.
Auch meinen Namen, Judith Bianka, habe ich offiziell ändern lassen. Ich hatte keine Lust, immer laut JUDITH gerufen zu werden und hieß fortan nur noch Bianka.
Unsere Familie war sehr bekannt in Bremen. Wir besaßen einige Häuser und Geschäfte. Mein Vater war ein überzeugter Sozialdemokrat und hatten einen großen Veranstaltungsraum an die Sozialdemokraten vermietet.
Im Oktober 1933 flüchtete er aus politischen Gründen über Holland, Belgien und Frankreich nach Spanien. Von Seiten eines Nazis hatte er die Warnung erhalten, er sei bei der Gestapo denunziert, da er vor der Machtübernahme [Hitlers] ein Wahlflugblatt gegen Röhm vorbereitet hatte. […] Nachdem der SA-Führer Röhm im Juni 1934 von Hitler wegen angeblichen Putsches getötet worden war, ließ mein Vater durch meine Mutter bei der Gestapo anfragen, ob er zurückkommen könne. Als man erklärte, dass gegen ihn nichts mehr vorliege, kehrte er zurück und blieb, nach eingehender Befragung, einige Jahre unbehelligt [1].
Nach dem Abitur besuchte ich die Berufsschule, studieren konnte ich ja nicht. Das war eine schlimme Zeit, denn ständig wurde ich als Jüdin beschimpft, ich durfte mit den Mitschülern nicht sprechen und mit niemandem zusammensitzen. Zuhause habe ich das aber nie erzählt.
Nach der Reichspogromnacht war mein Vater von SA-Leuten aus der Wohnung geholt worden, in eine Schule gebracht und „nach stundenlangem Umherführen durch die Stadt in die Strafanstalt Oslebshausen“ eingeliefert worden, von wo er nach ein oder zwei Tagen mit anderen Juden ins KZ Sachsenhausen gebracht wurde. Unter der Bedingung, dass er alsbald auswandern würde, wurde er etwa am 13.12.1938 freigelassen [2].
Am 05.07.1939 hat mein Vater Bremen mit einem Visum für Paraguay verlassen. In Santos (Brasilien) hat ihn allerdings ein Onkel, der Deutschland schon vor dem Krieg verlassen hatte, vom Schiff geholt. Dieser Onkel nahm ihn mit auf seinen Sítio nach Pirituba, etwas außerhalb von São Paulo. Schnell entschied sich mein Vater allerdings, in die Stadt zu gehen, denn schließlich hatte er immer im Büro und nie auf dem Land gearbeitet.
Ich habe die gesamte Kriegszeit in Bremen verbracht und überlebt. Ich war immer zuhause, nie versteckt. Gegen Ende des Krieges, im November 1944, wurden jüdische Mischlinge zur Zwangsarbeit in der ‚kriegswichtigen Industrie‘ eingezogen. Wir waren 60 Mischlinge, mussten allein arbeiten, durften nicht gemeinsam essen und durften nicht sprechen – vor allem nicht mit den französischen, italienischen und ukrainischen Kriegsgefangen. Insbesondere die Ukrainer wurden furchtbar behandelt.
Ungefähr ein Dreivierteljahr habe ich dort gearbeitet, bis ich einen Unfall hatte. Damals hatte ich verschiedenes ausgelagert. Eines Abends, im Januar 1945, bin mit einem christlichem Freund herausgefahren, um einen meiner eingelagerten Koffer abzuholen. Auf dem Weg Richtung Hamburg haben uns plötzlich deutsche Soldaten festgehalten, die gerade einen Lastwagen mit allem Möglichen beluden, damit wir ihnen zur Hand gingen. Das mussten wir natürlich tun.
Da es schon spät war, schlug mein Freund vor, vor Ort zu übernachten. Ich dagegen wollte zurück nach Bremen und überredete ihn, sofort den Rückweg anzutreten. Am Rande einer kleinen Ortschaft zwischen Bremen und Hamburg sind wir dann mitten in der Nacht frontal mit einem Truppentransport zusammengestoßen. Ein Arzt musste geholt werden, da mein Freund schwer verletzt war. Ich selbst war von oben bis unten voller Schrammen, meine Knie taten schrecklich weh, doch ernster verletzt war ich nicht.
Mein Freund war lange Zeit nicht transportfähig und so blieben wir schließlich einige Monate in einer kleinen Pension unweit des Unfallorts.
In der Nähe befand sich ein Schloss, das die SS während des Kriegs genutzt hatte. Als sich das Kriegsende abzeichnete, waren die Soldaten geflüchtet. Sie hatte alles zurückgelassen. So kam es, dass mein Freund Fahrräder, die dort herumstanden, stahl, damit wir zurück nach Bremen kämen. Kurz bevor wir uns auf den Weg machten, trafen wir auf alliierte Soldaten. Das war eine riesige Freude. Endlich war der Krieg vorbei! Da ich gut Englisch sprach, konnten wir uns sogar mit den Soldaten unterhalten.
Meine Sprachkenntnisse sind auch nach Kriegsende sehr nützlich gewesen. Ich arbeitete unter anderem als Übersetzerin bei den Schotten, die überhaupt nicht geizig, sondern sehr nett waren. Schließlich war ich bei der Israelitischen Gemeinde, die Mitte August 1945 erneut gegründet wurde, tätig. Im gleichen Haus befanden sich außerdem die Hilfsorganisationen HIAS [3] und Joint [4].
Inzwischen hatten wir erste Briefe meines Vaters erhalten, der mir vorschlug, auch nach Brasilien zu kommen. Wenn es mir dort gefiele, könnten meine Mutter und meine Schwester nachkommen. Es war schwer, ein Visum zu bekommen, doch mein Vater ließ nichts unversucht, das Geld für die Schiffsfahrt und das erforderliche Visum zu bekommen.
Er hatte sich mit einem katholischen Vorgesetzten angefreundet, der erklärte, dass ich nachkommen könne, wenn ich katholisch würde. Bremen war protestantisch, die Katholiken waren nicht sehr beliebt. Da habe ich mir gedacht: Katholisch werde ich auf keinen Fall.
Im Frühling 1948, an einem Samstag, als ich gerade nachhause gekommen war, erhielt ich plötzlich ein Telegramm zwecks Ausreise am Montag. Mein Vater hatte das Geld für die Passage zusammengekratzt und ein Visum besorgt. Ich war glücklich und gleichzeitig geschockt. Wie sollte ich so schnell ausreisen. Ich hatte noch nicht einmal einen Pass. Ich nahm sofort Kontakt zur HIAS auf, die ich ja gut kannte. Innerhalb eines Tages hat die Hilfsorganisation das Unmögliche möglich gemacht und mir einen vorläufigen Ausreisepass ausgestellt.
Meine Mutter und meine Schwester haben mich nach Hamburg zum Schiff, der Santarém, einem Repatriierungsschiff, begleitet. Ich freute mich. Zwar war ich nicht mehr unmittelbar bedroht, doch ich wollte ein neues Leben beginnen, wollte die Erinnerungen an Krieg und Verfolgung abstreifen.
Meine Mutter hatte mich darauf vorbereitet, dass ich die Kabine auf dem Schiff wohl teilen müsste, doch davon, dass sich 400 Menschen in einem großen Raum befinden würden, hatte mir niemand etwas gesagt. Es war entsetzlich, vor allem das Kindergeschrei. Vier Wochen dauerte die Überfahrt. Das Schiff hielt ständig an. Am 27.05.1948 trafen wir endlich in Santos ein, wo mich mein Vater in Empfang nahm.
Damit, dass mein Vater in São Paulo unter so ärmlichen Bedingungen lebte, hatte ich nicht gerechnet. Mehr als ein kleines Kellerloch konnte er sich nicht leisten, denn er hatte wirklich alles Geld, das er hatte, für meine Überfahrt ausgegeben.
Am liebsten wäre ich sofort zurück nachhause gefahren. Doch das ging natürlich nicht. 14 Tage lebte ich bei meinem Vater, habe alles gespart und dann mein Leben selbst in die Hand genommen, mir eine Stellung und ein Zimmer gesucht und damit begonnen, Portugiesisch zu lernen.
In der Anfangszeit in São Paulo kamen mir meine Englischkenntnisse einmal mehr zugute. Ich arbeitete als Sekretärin, zuerst nur mit der englischen Sprache. Später war ich auch für deutsche Unternehmen tätig. Drei bis vier Jahre habe ich bei Otto Wolff im Außenhandel gearbeitet.
Doch zuvor, 1948, habe ich meinen Mann Luser Beller [5] kennengelernt. Er wurde 1916 in Altenburg in Thüringen geboren und stammte aus einer Familie polnischer Juden. Während des Holocausts hatte er seine gesamte Familie verloren, mit Ausnahme seiner Schwester Perel, die, nachdem sie 1932/1933 nach Brasilien emigriert war, in den 1960er Jahren schließlich nach Israel ging.
Über mehrere Stationen hatte mein Mann 1939/1940 nach Usbekistan gelangen können, wo er die letzten Kriegsjahre verbrachte und überlebte. 1947 wanderte er nach Brasilien aus
[6].
Am 20.11.1949 heirateten mein Mann und ich. Anfangs lebten wir zur Untermiete, bis wir uns eine kleine Wohnung in der Rua Ana Cintra kauften. Wir bekamen zwei Töchter, 1952 und 1958.
Im Geburtsjahr unserer ersten Tochter kehrte mein Vater, der in Brasilien nie richtig hatte Fuß fassen können, zurück nach Deutschland.
Mein Mann arbeitet als Grafiker und ich nahm meine berufliche Tätigkeit wieder auf, nachdem die Mädchen jeweils fünf Jahre alt waren.
Später kauften wir ein Apartment in der Alameda Tietê. Dort habe ich sehr gern gelebt, bin viel durch die schönen Straßen geschlendert und häufig im Traditionsgeschäft Casa Santa Luzia einkaufen gegangen.
2004 erlitt ich einen Schlaganfall, der schnell entdeckt wurde, so dass die leichte Lähmung im Gesicht gleich wieder zurückging. Wesentlich gravierender war eine andere Auswirkung: Ich hatte das Portugiesisch verloren. Meine Tochter machte mich immer wieder darauf aufmerksam, dass ich mit den Ärzten nur deutsch sprach, was sie natürlich nicht verstanden. Ich musste also wieder Sprachunterricht nehmen, im Alter von 82 Jahren. Nach sechs Monaten hatte ich meine Sprachkenntnisse zurückerlangt, wobei ich insgesamt nicht mehr so gut Portugiesisch spreche. In der Familie haben wir immer nur deutsch gesprochen. Unsere beiden Kinder haben - getrennt voneinander - jeweils ein Jahr in Deutschland gelebt und beherrschen die Sprache fließend in Wort und Schrift.
Nach meinem Schlaganfall wurde unser Leben im eigenen Apartment beschwerlicher. Eine meiner Töchter hatte eine Bekannte, die regelmäßig ihre Tante im Lar Recanto Feliz, dem Altersheim der Sociedade Beneficente Alemã (SBA), des Deutschen Hilfsvereins, besuchte. So kam es, dass sie uns davon erzählte und wir alle zusammen hingefahren sind.
Wenig später zogen mein Mann und ich dort ein. Doch insbesondere mein Mann tat sich schwer mit der Umgewöhnung. Und so gingen wir nach etwas über einem halben Jahr zurück in unser Apartment, das wir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht verkauft hatten.
Als meine Kinder nach dem Tod des Vaters im September 2007 schließlich die Sorge äußerten, dass ich nicht allein in unserem Apartment leben könne, ging ich - noch im gleichen Jahr - zurück in das Lar Recanto Feliz.
Hier fühle ich mich sicher und geschützt. Die Organisation in der SBA ist sehr gut. Viele Aktivitäten werden angeboten, was die Zeit hier sehr kurzweilig macht. Bingo und Seniorentanz mache ich regelmäßig. Eine Weile habe ich auch an einem Reiki-Kurs teilgenommen. Das Gedächtnistraining besuche ich von Anfang an. Das Training selbst und die Hausaufgaben, die ich immer mache, fallen mir sehr leicht und machen mir Freude.
Auch lese ich regelmäßig, am liebsten auf Deutsch. An zweiter Stelle steht
Lektüre in englischer Sprache, darauf folgt Portugiesisch. Dass ich hier im Lar Recanto Feliz deutsch sprechen kann, ist ein großer Pluspunkt. Positiv sind auch die Kontakte, die sich über die
gemeinsamen Aktivitäten ergeben [7]“.
* 10.08.1929
Geburtsort: Santos
„Meine Familie stammt aus Santos. Die Großmutter mütterlicherseits war aus Norwegen eingewandert und mein Großvater väterlicherseits war Portugiese. Doch deren Herkunft war nie ein Thema.
Musik spielte eine wesentliche Rolle in der Familie. Mein Vater, Luiz Gomes Cruz, war Komponist, Dirigent und Dozent für Musik. Wir haben viel musiziert. Ich selbst habe Klavier am Konservatorium studiert und Gitarre erlernt, um die Musik meines Vaters zu spielen.
Beruflich habe ich allerdings einen anderen Weg eingeschlagen. Nach meinem Schulabschluss habe ich ab meinem 17. Lebensjahr erst bei der Prudência Capitalização und dann als Sekretärin bei einer Vorgängerorganisation der brasilianischen Sozialversicherung INSS[1] gearbeitet. Damals war die Behörde noch in verschiedene Bereiche untergliedert. In Santos gab es eigens Abteilungen für den Hafen und den Transportsektor. Dort war ich tätig.
Im Jahr 1954 habe ich schließlich an einem Bewerbungsverfahren der Banco do Brasil teilgenommen, was dazu führte, dass ich
in die Bank wechselte. Hier lernte ich nach einigen Jahren auch meinen Mann, der, wie ich, dort tätig war, kennen. 1963 heirateten wir. Insgesamt war ich zwölf Jahre, bis 1966, bei der Banco do
Brasil beschäftigt.
Die musisch-künstlerische Tradition führt einer meiner Söhne, der als Schauspieler in São Paulo lebt und arbeitet, weiter. Meinen anderen Sohn hat es nach São José dos Campos verschlagen.
Zuvor lebten wir lange sehr glücklich in einem großen Haus in Santos. Nachdem mein Mann 1998 starb, schlugen mir meine Söhne vor, in ein Apartment zu ziehen, denn ein großes Haus macht schließlich auch mit Personal viel Arbeit. Doch das Haus war mein Leben, ich war dort zuhause. Wir hatten unsere Kinder dort großgezogen. Ein Umzug in ein Apartment kam für mich nicht in Betracht. Ich erklärte meinen Kindern also, dass ich hier in diesem Haus bis zu meinem Lebensende bleiben würde, was sie auch akzeptierten.
Eines Tages habe ich einen interessanten Bericht über das Lar Recanto Feliz gelesen, es kann auch eine Reportage im Fernsehen gewesen sein, das erinnere ich nicht mehr genau, denn zu diesem Zeitpunkt war die Einrichtung für mich ja ohne Belag, schließlich wollte ich in meinem Haus bleiben. Erst Jahre später sollte ich mich wieder an diesen Bericht erinnern.
Der Mensch durchlebt unterschiedliche Lebensphasen. Die letzte Phase, bevor das Lar Recanto Feliz wieder in mein Blickfeld rückte, war sehr schwierig, denn ich hatte mit Einschränkungen zu kämpfen. Meine rheumatische Arthritis, die sich insbesondere in den Händen zeigt, machte mir sehr zu schaffen.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich eine Empregada, die drei Jahre bei mir gewesen war. Als sie ging, hat sie all meinen Schmuck mitgenommen. Was mir zugesetzte, war nicht der materielle Verlust, denn diesen Dingen messe nicht viel Bedeutung bei. Es ging vielmehr darum, dass ich Erinnerungsstücke von großem emotionalem Wert verloren hatte. Dazu kam der Schock, dass eine Person, die mit mir unter meinem Dach gelebt hatte, die wie ein Familienmitglied behandelt worden war, so etwas tut.
Es war eine schwere Enttäuschung, die mich darüber nachdenken ließ, wie es mir in Zukunft gelingen könnte, Menschen, auf deren Hilfe ich aus gesundheitlichen Gründen ja angewiesen war, in meinem Haus aufzunehmen und ihnen vertrauen zu können. Mit einer Bewerbung erhält man zwar Dokumente, doch die können alle falsch sein. Mein Vertrauen war beschädigt worden.
Ich wusste, dass ich nicht mehr allein leben kann, dass meine Kinder ihr Leben in São Paulo und São José dos Campos leben und begann, nachzudenken. An diesem Punkt kam mir der Bericht über dasLar Recanto Feliz wieder ins Gedächtnis.
Da ich keine Einzelheiten erinnerte, bat ich meinen Sohn, im Internet zu schauen, mit der Organisation in Kontakt zu treten und einen Besichtigungstermin zu vereinbaren. Ich wollte mir das Lar Recanto Feliz unbedingt ansehen, was zeitnah möglich war.
Die Initiative ging allein von mir aus, denn nie hätte ich gewollt, dass sich meine Kinder für mich verantwortlich oder gar schuldig fühlen. Niemals sollte der Zeitpunkt kommen, an dem ich das Gefühl von Zurückweisung empfinden würde, selbst wenn es nur subjektiv wäre.
Als ich mit meinem Sohn vor Ort war, wusste ich, dass ich genau hier leben möchte. Die schöne Anlage, das viele Grün, die verschiedenen Wohnmöglichkeiten innerhalb des Lar Recanto Feliz und die gute Atmosphäre haben mich sofort überzeugt.
Gern war ich bereit, die Wartezeit zu überbrücken. Als ich schließlich nach vier Monaten die Nachricht erhielt, dass ein Platz frei geworden ist, habe ich alles, mit Ausnahme einiger Möbel und persönlicher Dinge, unter meinem Söhnen aufgeteilt oder verkauft und bin aus meinem Haus ausgezogen. Bis zu meinem Umzug in das Lar Recanto Feliz war ich dann in einer Klinik in Santos, in der Nähe meines Hauses.
Heute lebe ich hier, habe mein Sparbuch und einige Erinnerungsstücke, die mich hier gut leben lassen. Ich muss mir keine Sorgen mehr um den Verkauf meines Besitzes machen, über dessen Vermietung oder säumige Mieter. Das kann bedrückend sein und trübe Gedanken mit sich bringen. Für mich gibt keinen Grund traurig zu sein. Nichts mehr, das mich belastet. Jetzt bin ich frei!
Bevor ich hierher kam, kannte ich niemanden, der hier lebt. Doch das war auch nicht wichtig. Alles, auch das Wohlbefinden, fängt bei uns selbst an. Ich bin ein sehr positiver Mensch. Wenn ich mich gut fühle, wird alles gut sein. Wenn etwas nicht gut ist, sollte man bei sich suchen und nicht bei anderen Menschen oder gar die Umstände verantwortlich machen.
Ich schätze das vielfältige Angebot hier, das ich intensiv wahrnehme. Besonders viel Freude bereiten mir die zahlreichen kulturellen Aktivitäten, ob es das Singen im Chor oder Musikveranstaltungen innerhalb oder außerhalb des Lar Recanto Feliz sind. Musik ist fundamental für mich, es gibt nichts Schöneres. Wenn ein Chor hier ist, was relativ häufig der Fall ist, singe ich, je nach Gelegenheit, laut oder leise mit. Ich habe ein großes Repertoire. Als mein Sohn im vergangenen Jahr in der Aufführung Um Violinista no Telhado[2]mitgewirkt hat, sind wir in einer Gruppe dorthin gefahren. Ein wirklich schönes Erlebnis.
Ich bin sehr glücklich hier, genieße die menschliche Wärme, die hier sehr groß ist und weiß genau, dass ich für mein Leben die richtige Wahl getroffen habe. Perfektion ist ein unerreichbarer Zustand, doch das Lar Recanto Feliz ist nur Millimeter davon entfernt.
Inzwischen lebt sogar eine Freundin von mir hier. Sie hat das Lar Recanto Feliz vorher nicht einmal angesehen, so sehr scheinen sie meine Schilderungen beeindruckt zu haben. Dabei habe ich sie darauf hingewiesen, dass sie ein ganz anderer Mensch ist. Doch dies hat sie abgetan, ist einfach eingezogen und – wie ich – sehr glücklich hier“[3].
[2]Fiddler on the Roof (Der Fiedler auf dem Dach) ist ein Musical nach dem jiddischen Roman Tewje, der Milchmann von Scholem Alejchem. Der englische Originaltitel stammt von Marc Chagalls Bild Fiddler on the Roof. In São Paulo wurde das Musical unter dem Titel Um Violinista no Telhado vom 16.03. bis 15.07.2012 aufgeführt. In Deutschland wird es unter dem Titel Anatevka präsentiert. (diverse Quellen)
* 09.06.1935
Geburtsort: Warschau
Einwanderung nach Brasilien: 1956
„Die Familie meines Vaters stammte aus Russland. Meine Großmutter mütterlicherseits wurde in Schlesien geboren, mein Großvater war der einzige Pole in meiner Familie. Die weitere Verwandtschaft bestand aus Tschechen und Holländern, um exemplarisch zwei Nationalitäten zu nennen. Einige waren russisch-orthodoxen Glaubens, andere Katholiken, wieder andere Protestanten.
Ursprünglich wollte mein Vater russisch-orthodoxer Priester werden und schließlich Astronom, bis mein Großvater eines Tages kurzerhand die Entscheidung traf, dass sein Sohn an der ETH[1] Maschinenbau studieren sollte.
Nach dem Studium kehrte mein Vater zurück und lernte meine Mutter kennen. Meine Eltern heirateten, ließen sich allerdings schnell wieder scheiden. Seitdem lebte mein Vater im Ausland. Meine Mutter heiratete kurze Zeit darauf erneut.
Ich selbst habe später Dekoration studiert. Sehr genau erinnere ich eine Arbeit für einen Kongress der kommunistischen Jugend an der Politechnika Warszawska, der Technischen Universität Warschau, für die ich mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Im Pałac Kultury i Nauki, dem Kulturpalast, überreichte mir der Minister persönlich die Auszeichnung.
Nach dieser sehr arbeitsintensiven Zeit saß ich nun zuhause in Warschau. Einerseits spürte ich noch immer das hohe Energieniveau, andererseits eine gewisse Leere, ja Langeweile. Plötzlich kam ich auf die Idee, in Brasilien anzurufen. Ich wusste. dass mein Vater irgendwo in São Paulo war, doch ich hatte seit 1939 keinen Kontakt zu ihm gehabt, überhaupt keinen. Ich kannte ihn also kaum.
Ich bat die Telefonistin – dies alles trug sich im Jahr 1956 zu - mich mit meinem Vater zu verbinden. Außer seinem Name und der Stadt São Paulo als Wohnort konnte ich keine sachdienlichen Angaben machen. Die Telefonistin in Brasilien sollte einfach im dortigen Telefonbuch nachsehen, schlug ich vor. Anschließend wandte ich mich meinem Aquarium zu, sah meine Fische an und träumte.
Ich hatte schon gar nicht mehr an das Telefonat gedacht, als ich plötzlich durch ein Klingeln aufschreckte. Ich hob ab und sprach tatsächlich mit meinem Vater, nach 17 Jahren. Es war eine große Freude. Mein Vater berichtete, dass er wieder verheiratet sei. Seine Frau sei 20 Jahre jünger als er, doch Kinder hätten sie keine, fuhr er fort und erkundigte sich nach mir, woraufhin ich ihm von der gerade abgeschlossenen Arbeit und dem spontanen Anruf bei der Vermittlung erzählte.
Er sei in zwei Wochen in Wien, erklärte mein Vater, ich müsste kommen, er wolle mich unbedingt sehen. Pragmatisch erklärte ich, dass es schon zwei Jahre dauere, bis man ein Visum für Russland bekäme. Ein Visum für den Westen zu bekommen, sei sicher ungleich komplizierter und vor allem langwierig. Doch er insistierte und sagte ich sollte alles daran setzen.
Ich war noch voller Energie von dieser Arbeit, die ich gerade abgeschlossen hatte, wenn auch einen Moment etwas ratlos. Plötzlich kam mir allerdings die zündende Idee: Der Minister, der mir den Preis verliehen hatte, könnte mir bestimmt behilflich sein.
So sprach ich dort vor, erinnerte ihn an die Preisverleihung und erklärte, dass mein Vater nach Wien ginge und dort operiert werden müsse. Er war wirklich krank – nierenkrank – doch die Operation war eine Notlüge. Ich bat den Minister eindringlich, mir ein Visum zu erteilen und zwei Wochen später war ich tatsächlich in Österreich.
Nicht lange, nachdem ich in Wien angekommen war, stellte sich für mich die Frage meiner Rückkehr. Daraufhin sagte mein Vater energisch, dass ich doch wohl nicht so verrückt sei, nach Polen zurückzukehren. Ich solle bei ihm bleiben und in Wien weiterstudieren.
Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter bereits zum fünften Mal verheiratet, mein Bruder, der 20 Jahre jünger ist als ich, war damals gerade ein Jahr alt.
Spontan entschied ich, in Wien zu bleiben. Mein Vater kannte den österreichischen Präsidenten, der Körner[2]hieß, das erinnere ich noch. Er war ein Freund, von dem mein Vater damals eine Atmos Uhr[3] gekauft hatte. Wir sind ein halbes Jahr geblieben und ich habe die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Anschließend sind wir etwas gereist und noch im selben Jahr – 1956 – nach Brasilien gegangen.
São Paulo hat mich beeindruckt. Ich war fasziniert von all den neuen, exotischen Eindrücken. Gleichzeitig irritierte mich manches. An der Kunstakademie, die sich damals in der Pinakothek befand, herrschten Gepflogenheiten, die mich schockierten. Den Professor für Skulptur beispielsweise habe ich in der gesamten Zeit, in der ich dort studierte, nur einmal gesehen. Andere Professoren erschienen mal zum Unterricht und dann wieder nicht. Lehrer wie Schüler waren sehr nachlässig gekleidet. Zudem wirkten insbesondere die Schüler unglaublich engbrüstig und blass, sie waren völlig verkapselt.
Im Kommunismus hatte ich ganz andere Erfahrungen gemacht. Dort war für alles gesorgt, die Dinge waren bis ins Letzte geregelt. Die Menschen hatten zwar wenig Geld, aber dafür umso größere Träume, an deren Umsetzung sie hart arbeiteten. Alles war viel expressiver, es gab viele Plakate.
Als ich Polen verlassen hatte, wusste ich nicht genau, was ich wollte. Ich hatte den Wunsch, hinter den Eisernen Vorhang zu blicken, ohne genau zu wissen, was mich dort erwarten würde. Das, was ich an der Kunstakademie erlebt hatte, wollte ich nicht mehr. Und so ging ich nach einem Jahr zu meinen Vater und erklärte ihm, dass ich dort nicht mehr studieren wollte. Als kommunistische Propaganda tat mein Vater meinen Entschluss ab. Doch als er merkte, dass ich diese, in meinen Augen schlechte Schule in keinem Fall weiter besuchen wollte, lenkte er ein.
Ich bin schließlich nach Genf gegangen, auf die dortige Kunstakademie. In der Pension, in der ich damals wohnte, lebte auch ein Verwandter von Haile Selassie[4], der Mochrata Fessa hieß und eine sehr eindrucksvolle Person war. Mit dessen Cousinen freundete ich mich sofort an. Außerdem lebten auch Freunde meines Vaters in Genf, mit denen ich einen lockeren Kontakt unterhielt.
Aus Genf bin ich kurz wieder nach Brasilien zurückgekehrt, bis ich nach England ging, um dort Englisch zu studieren.
Als ich wieder nach São Paulo zurückgekehrt war, lernte ich Manfred, meinen heutigen Mann, auf einem großen Fest zum Jahreswechsel 1958/1959 kennen. 1963 haben wir geheiratet.
Mein Mann ist, wie auch seine Mutter, in Brasilien geboren. Ihr Vater, der wohl aus Stettin stammte, war Ende des 19. Jahrhunderts nach Brasilien eingewandert und war bis 1932 Besitzer der Chacara Flora, die damals eine Gärtnerei war[5]. Die Familie der Mutter meiner Schwiegermutter stammte, soweit ich mich erinnere, aus Schleswig-Holstein.
Der Vater meines Mannes, Wilhelm Peters, war aus Hamburg nach Manaus eingewandert und machte dort auf dem Höhepunkt des Kautschuk-Booms ein Vermögen[6]. Später ging er nach São Paulo, wo er schließlich Lustres Pelotas, ein auf Beleuchtung spezialisiertes Unternehmen gründete. 1952 entstand die Peterco, eine Unternehmensgruppe aus fünf Firmen, die bedeutende Beleuchtungsprojekte realisierte.
Anfang der 1970er haben mein Mann Manfred und sein Bruder Klaus verkauft. Klaus heiratete erneut und erwarb Praia do Forte[7]. Mein Mann übernahm unter anderem Fazendas in Paraguay.
Vor der Geburt unseres Sohnes, der wie mein Mann, Manfred heißt, aber Maneco genannt wird, unternahmen wir eine sechsmonatige Weltreise. Auch später sind wir viel gereist, doch unser Lebensmittelpunkt ist immer São Paulo geblieben.
Mein Mann brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Er mochte Tiere, war mit dem Wasser sehr verbunden, tauchte gern, fischte und gewann sogar eine Meisterschaft im Unterwassertauchen, war Campeão de Pesca Submarina.
Seine Mutter lebte an der Represa[8], unweit des Clube de Campo de São Paulo. Auch dort wurde viel Wassersport betrieben. Häufig waren Freunde zu Gast und alle fuhren Boot oder Wasserski.
Unsere Freunde stammten aus der ganzen Welt, nicht nur aus Deutschland und Polen. Integration war mir persönlich immer sehr wichtig, denn ich wollte nicht limitiert sein. Insbesondere bei älteren Einwanderern, zu denen auch mein Vater gehörte, konnte ich beobachten, dass sie gedanklich in alten Konventionen verhaftet waren und in ihren Erinnerungen lebten. Mir war dies stets zu eng und auch zu unterinteressant. Gerade als Polin hatte ich gesehen, dass unterschiedliche Einflüsse – russische, deutsche, schwedische – sehr bereichernd sein können.
Wir verbrachten auch viel Zeit in São Sebastião, dort war es wild und schön. Häufig genossen wir das Meeresleuchten, sahen den Fischern dabei zu, wie sie ihre Netze einholten und aßen Austern direkt vom Stein.
Im Jahr 2006, in Moskau, auf einer unserer zahlreichen Reisen zeigten sich erste Anzeichen der Krankheit meines Mannes. In der Folgezeit begann ich mich mit dem Thema Wohnen im Alter auseinanderzusetzen. Ich kannte die Senior Houses des renommierten Architekten Brad Perkins[9], der in das Projekt meines Schwagers in Praia do Forte involviert gewesen war. Viele Amerikaner, so hatte ich von ihm erfahren, würden mit 60 oder 65 Jahren, wenn sie sich zur Ruhe setzten, in diese hochkomfortablen, komplett auf die Bedürfnisse des Alters abgestimmten Häuser ziehen.
Ich sprach mit unserem Arzt, Dr. Jozef Fehér[10], über Perkins‘ Arbeit, denn Dr. Fehér trug sich mit dem Gedanken, etwas Ähnliches aufzubauen. Auch mit Wolfgang Sauer[11], mit dem wir ebenfalls befreundet waren, tauschte ich mich hierzu aus.
So intensiv ich mich mit diesem Thema beschäftigte, so schrecklich war es auch, denn aus den slawischen Ländern kannte ich ein anderes Konzept. Dort verbrachten die Großeltern in dem Haus, das sie aufgebaut und an ihre Kinder weitergegeben hatten, ihren Lebensabend am Ofen. Meine Großmutter hatte eine leichte Form der Parkinson-Krankheit. Stets trug sie schwarze Perlenohrringe, die immer am Ofen klapperten.
Vermutlich möchte jeder das Leben der Kinder und Enkelkinder weiter (mit-)erleben, doch insbesondere ein Zusammenleben der Generationen ist nicht unproblematisch. Man geht sich gegenseitig auf die Nerven, es gibt keinen Platz für die Wehwehchen des Alters, man ist ein Störfeld und fühlt sich schnell zurückgesetzt.
Lange Zeit konnte mein Mann die Symptome seiner Krankheit kompensieren. Als dies nicht mehr möglich war, begann ich damit, ihn zuhause zu pflegen. Doch dies wurde mit der Zeit schwieriger, zumal es nicht leicht war, geeignetes Personal zu finden, das bereit war, meinen Mann dauerhaft zu pflegen. Hinzu kam die Problematik von Arztbesuchen. Wie sollte ich mit meinem Mann in seinem Zustand einen Zahnarzt aufsuchen – insbesondere in einer Stadt wie São Paulo.
Um 2009/2010 herum führte uns die Krankheit meines Mannes schließlich in das Lar Recanto Feliz, das wir durch Gunter Reimann, einen guten Freund meines Mannes, und seine Schwester Gisela, die hier als Freiwillige tätig war, kannten.
Hier war der Zahnarztbesuch kein Thema mehr, denn die Fachärztin behandelt meinen Mann in dessen Zimmer. Endlich hatte ich verlässliche, hochkompetente Hilfe: Ärzte, entsprechend geschulte Pflegekräfte, Therapeuten, die Tag und Nacht zur Verfügung stehen und im Notfall auch eine Ambulanz anfordern. Man muss nur eine Klingel betätigen. Das Ärzteteam, von denen einer seine eigene Mutter hier untergebracht hat, ist wirklich großartig. Auch außerhalb des medizinisch-pflegerischen Bereichs ist für alles gesorgt, vom Wäscheservice bis zum Friseur.
Anfangs habe ich meinen Mann jeden Tag besucht, habe Speisen zubereitet und mitgebracht, die er besonders gern mag. Nach einer Weile habe ich allerdings entschieden, mir ebenfalls ein Zimmer hier zu nehmen, letztlich auch, da ich selbst ein gesundheitliches Problem bekam.
Die Werte haben sich mit der Krankheit meines Mannes verändert. Das, was mich früher erfüllte, wie beispielsweise das Sammeln japanischer Knöpfe, interessiert mich heute nicht mehr, denn ich kann all dies nicht mehr mit meinem Mann teilen. Damals haben wir viel gekocht, haben Freunde eingeladen, sind gereist. Heute ist die Gesundheit in den Vordergrund gerückt. Diese Veränderungen zu akzeptieren, war anfangs nicht leicht für mich, ebenso wie die Tatsache, dass das Lar Recanto Feliz unsere letzte Station sein wird.
Doch ich habe viel zu tun. Ich schaue ständig nach meinem Mann, dessen Krankheit weiter voranschreitet. Jeden zweiten Tag fahre ich in unser Haus, auf das eine Angestellte achtet. Einmal pro Woche bereite ich ein Mittagessen für meine Enkel zu. Ich decke stets mit meinem schönen Porzellan, nicht zuletzt, um damit die Tradition und alte Zeiten lebendig zu halten. Ab und zu empfange ich auch meine Freundinnen.
Lange schon bin ich im Lar Recanto Feliz angekommen, in dieser wundervollen grünen Oase mit internationalem Flair. Über 20 verschiedene Nationalitäten leben hier. Ich nehme meine Mahlzeiten mit einer Dame englischer Abstammung, die in Alexandria geboren wurde, einer Italienerin und Brasilianerinnen ein. Dadurch, dass alle hier weite Strecken ihres Lebens in Brasilien verbracht haben, haben wir diesen typisch brasilianisch heiteren, leichten, unkomplizierten und unverkrampften Umgang miteinander.
Hier, im Lar Recanto Feliz, treffen Übersicht und andere typische deutsche Qualitäten auf internationales Flair und unser Leben ist ein bisschen so, wie es vorher war!“[12].
[2] Dr. h.c. Theodor Körner: * 24.04.1873 in Uj Szöny bei Komorn/Komárom (Ungarn) - † 04.01.1957 in Wien: Bundespräsident der Republik Österreich vom 21.06.1951 bis 04.01.1957
[4] Der äthiopische Gouverneurssohn stellte als Haile Selassie I. von 1930 bis 1936 sowie von 1941 bis 1974 den letzten Kaiser Äthiopiens. (http://www.whoswho.de)
[5] Die Chácara Flora ist heute eine exklusive Wohnanlage im Süden São Paulos. In der heutigen Form wurde sie 1924 erbaut. Das Gelände erstreckt sich über mehr als 1.000.000m² und zeichnet sich durch eine üppige atlantische Dschungelvegetation und über 100 Jahre alte Bäume, die diverse Tierarten wie Spechte, kleine Affen und das Beuteltier „Sarigüi“ beherbergen, aus. Außerdem befinden sich auf dem Gelände zwei Seen. Quelle: http://chacaraflora.com/de/chacara_flora.php (bearbeitet)
[6] Siehe auch Exame: À sombra do coqueiral - Como o ex-industrial paulista Klaus Peters realizou seu sonho: mudar de vida para ser hoteleiro numa praia paradisíaca da Bahia, 10.03.1999
[7] Vergl. Exame: À sombra do coqueiral - Como o ex-industrial paulista Klaus Peters realizou seu sonho: mudar de vida para ser hoteleiro numa praia paradisíaca da Bahia, 10.03.1999
[10] Dr. Jozef Fehér war von 1979 bis 1995 Präsident des Hospital Israelita Albert Einstein. (www.einstein.br)
Helga Siewert Anger
* 24.09.1929
Geburtsort: Caminho do Meio (registriert in Ibirama), Santa Catarina
Familie: 5 Geschwister
„Ich bin in Ibirama registriert, aber eigentlich bin ich in Caminho do Meio geboren. Schon meine Eltern sind in Brasilien geboren. Die Eltern meiner Mutter kamen aus Polen, an die kann ich mich genau erinnern. Noch heute sehe ich meine Großmutter vor dem Haus Kartoffeln schälen. Von den Eltern meines Vaters weiß ich nichts.
Die Eltern haben auf der Kolonie gearbeitet. Zur Schule bin ich gegangen. Nur sind die Lehrer nie geblieben, da es bei uns so abgelegen war. Aber von Zeit zu Zeit war einer da. Lesen und Schreiben habe ich gelernt, doch das Schreiben fällt mir schwer. Ich verwechsele vieles. Lieber habe ich in der Landwirtschaft geholfen, habe gepflanzt und Wald geschlagen. Manchmal haben wir auch mit zwei Leuten gesägt, ganz große Stämme.
Mit 13 Jahren habe ich meine Mutter verloren. Mein jüngster Bruder war damals gerade drei Jahre alt und mein Vater hat getrunken. Wir hatten Vieh, haben Milch und Quark gehabt. Ich musste dann auf der Kolonie arbeiten, damit ich Reis bekommen konnte.
Irgendwann ging es nicht mehr. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, hat uns geholt. Die ganze Familie ist verteilt worden: Die beiden Kleinen und der älteste Bruder sind bei der Tante geblieben. Ich bin in Stellung gegangen. Mein anderer Bruder ist zu einer Familie gekommen, die keine Kinder hatte, und meine jüngste Schwester war kurz bei meiner zweiten Tante, die sie allerdings wieder weggeschickt hat, als die rechtliche Bestätigung anstand. Meine Schwester lebte dann in einer anderen Familie, bis sie geheiratet hat und nach São Paulo kam. Wir waren immer in Verbindung, bis zu ihrem Tod.
Erst war ich bei einer Familie in Blumenau in Stellung. Anschließend habe ich bei der Tochter meiner ersten Familie in Joinville gearbeitet und die beiden Kinder großgezogen. Der Junge hat sehr an mir gehangen.
Von 1974 bis 1977 war ich bei einer Familie in São Caetano in der Nähe von São Paulo. Zwischen 1977 und 1984 habe ich zum ersten Mal für eine Familie, die direkt in São Paulo lebte, gearbeitet. Anschließend war ich noch kurz bei einer anderen Familie, bis ich für zwei Monate zu meiner Schwester, die ja bereits verheiratet war, zog.
Ich wollte nicht bei meiner Schwester herumsitzen, ich wollte wieder arbeiten. Eines Tages war ich auf dem Markt, auf dem ich heute noch einkaufe. Dort traf ich eine Bekannte. Deren Bruder, der Fahrer[1] in der SBA war, schlug mir schließlich vor, mich dort einmal vorzustellen. Meine Schwester hat mich zu diesem Gespräch begleitet.
Am 2. Mai 1984 habe ich in der Küche der SBA als Köchin begonnen. Nebenbei habe ich das Backen für mich entdeckt, was ich bis heute mache. Mit Hefekuchen fing alles an.
Als mir irgendwann das Kochen über war, wollte ich mich außerhalb der SBA nach einer neuen Stellung umsehen. Doch damals sagte man mir, dass es in der SBA genug zu tun gäbe. Also blieb ich und begann im Reinigungsdienst, habe gefegt, gescheuert, geschrubbt.
Zur gleichen Zeit habe ich damit begonnen, in großen Mengen zu backen. Damals haben wir jeden Monat ein Café Colonial veranstaltet, wie es in Rio Grande do Sul und Santa Catarina üblich ist. Jedes Mal habe ich 26 Kuchen gebacken, immer Apfel- und Schwarzwälder Kirschtorte.
Zum Festa junina in diesem Jahr[2] habe ich zwölf Apfel-, sechs Erdbeer- und sechs Nusstorten gebacken. Früher hatte ich eine extra Küche. Seit dem Umbau backe ich bei mir zuhause. Bei großen Stückzahlen mache ich die Kuchen hier fertig. In der Küche werden sie dann nur noch ausgebacken. Auch die Mitarbeiter bestellen bei mir, wann immer sie einen Kuchen brauchen. Ich habe viele Stammkunden.
Nach der Zeit in der Küche und als Reinigungskraft habe ich in der Wäscherei gearbeitet. Das mache ich bis heute. Auch in meinem Haus mache ich alles sauber. Ich arbeite auch in meinem Garten und fege den Weg vor meinem Haus.
Als ich 1998 offiziell in Pension ging, konnte ich in der SBA bleiben. Wo hätte ich auch hingehen sollen, ich hatte ja niemanden mehr. Die SBA ist mein Zuhause.
Ich erinnere mich noch gut an die Präsidenten der SBA, an Herrn Hellner[3], das war ein lieber Mann. Er ist damals immer mit der Schöpfkelle in die Küche gekommen und hat geschaut, was in den Töpfen ist. Den habe ich sehr gern gehabt, jeden Samstag ist er hier gewesen.
Einmal haben wir einen Ausflug zum Sítio von Herrn Endlein[4] gemacht. Auch diesen Tag habe ich gut in Erinnerung. Wenn ein Fest war, hat Herr Endlein immer die Bänke getragen.
Und Herr Pohlmann[5], der schwärmt nur von meinem Apfelkuchen, Dona Angelika, seine Frau, auch.
Ich habe mich hier immer sehr wohl gefühlt und hatte viele Kontakte. Da gab es auch meinen späteren Mann, der aus Danzig stammte. Wir waren lange Zeit Freunde. Vierzehn Jahre war er hier, doch er kannte die SBA schon länger, denn Freunde seiner Frau, die dann später gestorben ist, hatten hier gewohnt.
Wir haben viel zusammen unternommen – sehr respektabel[6] - bis er eines Tages am Strand sagte: ‚Ich möchte Dich etwas fragen, aber Du musst nicht sofort antworten, Du kannst es Dir erst überlegen: Willst Du mich heiraten?‘ Ich war überrascht, denn er hatte immer gesagte, dass er nicht noch einmal heiraten möchte. ‚Ach Helga‘, sagte er dann, ‚wem soll ich meins lassen, wenn ich einmal nicht mehr bin?‘
Am 27.05.2006 haben João Guillerme Anger und ich in der Kapelle auf dem Gelände der SBA kirchlich geheiratet. Der Padre, den João kannte, ist extra aus Santa Catarina angereist.
Es war eine wunderschöne Zeit mit meinem Mann, der am 23. Februar 2009 im Alter von 89 Jahren verstorben ist. Auch während unserer Ehe habe ich weitergearbeitet. Mein Mann hat mich oft bei der Arbeit besucht, ist zehn Minuten geblieben und hat dann wieder seine Dinge gemacht. Wie gut, dass mir meine Arbeit geblieben ist und meine Heimat, die SBA“[7].
[3] Heinz Hellner: Präsident der SBA von 1959-1985, zuvor Präsidiumsmitglied von 1954-1958 (Anmerkung der Redaktion)
[4] Wilhelm K. Endlein: Präsident der SBA von 1986-1991, zuvor Präsidiumsmitglied von 1968-1985 (Anmerkung der Redaktion)
[5] Karlheinz Pohlmann: Präsident der SBA von 1992-1997, zuvor Präsidiumsmitglied von 1980/81 bis 1992 (Anmerkung der Redaktion)
Einwanderungsgeschichte der Familie Kirst
Karl Kirst wurde am 13.02.1889 in Halle an der Saale geboren. Der gelernte Tischler war im Ersten Weltkrieg als Matrose auf Torpedobooten und schließlich auf der SMS München, einem so genannten Kleinen Kreuzer, eingesetzt worden.
Aufgrund der katastrophalen Nachkriegsverhältnisse beschloss er mit seiner Frau Luise, einer gelernten Schneiderin, und den drei Kindern, Arno, Gerhard und Gertraud, auszuwandern.
Am 4. Juni 1924 traf die Familie zusammen mit einem Vetter mit der Antônio Delfino, einem Schiff der Reederei Hamburg Süd, in Santos ein. Karl Kirst war es gelungen, 22.000 Rentenmark[1] durch die galoppierende Inflation zu retten. Die Familie zog nach Bosque da Saúde/Jabaquara, im Süden São Paulos, und begann damit, sich eine Existenz aufzubauen.
Als ausgebildeter Tischler wollte Kirst eine Sägerei aufbauen und erwarb 200 Alqueires[2] Urwald bei Santo Anastácio, im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo, das zur damaligen Zeit nicht viel mehr als ein Haltepunkt der Estrada de Ferro Sorocabana war. Ohne Kenntnisse der Landessprache und mit den Verhältnissen nicht vertraut, verlor er innerhalb weniger Monate sein mitgebrachtes Vermögen.
Bei Pianos Brasil fand er schließlich eine neue, wenn auch schlecht bezahlte Anstellung. Seine Frau Luise fertigte in dieser Zeit zahllose Brautkleider, die in der Nachbarschaft reißenden Absatz fanden, so dass das Auskommen mit beiden Verdiensten gesichert war.
Die wirtschaftliche Situation in São Paulowar in diesen Jahren insgesamt schwierig, nicht zuletzt durch die Revolta Paulista [3] und deren Nachwirkungen.
Die Situation der Familie verbesserte sich erst grundlegend, als Karl Kirst eine Anstellung in der renommierten Brauerei Companhia Antarctica Paulista gefunden hatte[4][5].
Arno Paul Kirst
* 17.06.1914 in Halle/Saale † 25.05.2004 in São Paulo
„Ich besuchte die Deutsche Schule zu Villa Marianna[6]. Nach meinem Abschluss trat ich als kaufmännischer Lehrling in die Firma Theodor Wille & Co[7] ein. Zur Vervollständigung meiner Ausbildung und mit dem Ziel, Buchhalter zu werden, nahm ich an verschiedenen Abendkursen teil.
Anschließend arbeitete ich mehrere Jahre in der Casa Allemã[8] in der Rua Direta. Dort lernte ich den Direktor von Tapetes Bandeirante[9], Domingos Aprile, kennen, den ich 1936 als Dolmetscher nach Deutschland begleitete, um ihn bei der Anschaffung moderner Webstühle zu unterstützen, die wir schließlich bei der Mertens & Frowein[10] GmbH & Co. KG in Neviges bei Wuppertal erwarben.
Während Domingos Aprile nach Brasilien zurückkehren konnte, wurde ich, da ich Jahrgang 1914 war, zur Wehrmacht eingezogen. Ein Jahr wurde ich in Potsdam, ein weiteres in Hannover zum Funker ausgebildet.
Ende 1938, als ich zur Silberhochzeit meiner Eltern nach Brasilien zurückgekehrt war, erhielt ich aus Deutschland ein sehr gutes Stellenangebot. Mertens & Frowein, die Firma, deren Maschinen wir gekauft hatten, bot mir eine Position, die ich auch annahm. Kaum hatte ich die Stellung angetreten, brach der Zweite Weltkrieg aus.
Als Reservist wurde ich bereits am zweiten Tag der Mobilmachung einberufen. Ich kam zur Funkkompagnie einer Infanterie-Division, die im Frankreichfeldzug und später in Russland eingesetzt wurde, wo ich in Kriegsgefangenschaft geriet.
Mir gelang die Flucht. Auf abenteuerlichen Wegen erreichte ich Berlin, wo ich meine Frau Christine, die ich 1942 geheiratet hatte, und unsere kleine Tochter endlich wiedersah. Gemeinsam flohen wir in die englische Besatzungszone zu Mertens & Frowein. Dort bekamen wir ein Zimmer zur Verfügung gestellt.
Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter wollte ich nach Brasilien zurückkehren, denn in diesem Land hatte ich weite Teile meiner Jugend verbracht, dort lebten meine Eltern.
Doch die Ausreise von Deutschen war zu diesem Zeitpunkt nicht ohne weiteres möglich. So erhielt ich die so genannte exit permit, die Ausreisegenehmigung der englischen Besatzungsregierung, erst, nachdem Tapetes Bandeirante sich für mich verwandt und ein Visum für mich und meine Familie beantragt hatte.
1949 reisten wir an Bord des belgischen Schiffs Copacabana nach Santos, wo wir von meinen Eltern und engen Jugendfreunden in Empfang genommen wurde. Mit deren Hilfe konnte ich noch im gleichen Jahr die Kaffeerösterei Santo Amaro gründen.
‚Mein Bruder hatte einen Freund, einen Brasilianer, der Joaquim Leite[11] hieß, aber Kaffee verkaufte. Er war Kaffeeeinkäufer auf Fazendas und hatte meinem Bruder den Vorschlag gemacht, gemeinsam eine Rösterei aufzumachen. Er wollte den Kaffee liefern und mein Bruder war für dessen Röstung und den Verkauf zuständig.
Mein Bruder röstete den Kaffee so, wie er in Deutschland getrunken wurde. Café Santo Amaro war sehr bekannt und ausgesprochen beliebt. Die Spezialität meines Bruders war der Café Hamburgo, den er für die deutsche Kundschaft heller röstete. Sogar in den Süden Brasiliens verkaufte er.
Die Rösterei lief phantastisch. Nach einiger Zeit zahlte mein Bruder seinen Partner aus und betrieb die Rösterei als Alleineigentümer. Der große wirtschaftliche Erfolg ermöglichte es ihm schließlich, das Grundstück meiner Eltern in Rio Bonito, an der Represa, das sie in den 1930er-Jahren verkauft hatten, erneut zu erwerben. Zusätzlich erstand er Apartments, eines in der Granja Julieta und eines für die Tochter‘[12].
Ich verkaufte Cafe Santo Amaro im Jahr 1971, nachdem ich einen Herzinfarkt erlitten hatte. 22 Jahre hatte die Kaffeerösterei bestanden.
Von diesem Zeitpunkt an lebte ich zurückgezogener und widmete meine Zeit vorwiegend dem Rotary Club São Paulo, dem ich seit 1954 angehörte und dessen Präsident (1962/1963) und Ehrenpräsident ich gewesen war.
Im Jahr 2000 ging ich in das Lar Recanto Feliz des Deutschen Hilfsvereins, wo meine Frau seit einem schweren Schlaganfall im Jahr 1996 bereits lebte“[13].
Gertraud Ostermann (geborene Kirst)
* 24.06.1921
Geburtsort: Halle/Saale
Einwanderung nach Brasilien: 1924
„Als meine Brüder in die Deutsche Schule zu Villa Marianna gekommen waren, wollte auch ich dorthin. Doch ich war noch zu klein. Also wurde ich mit fünf Jahren in einer kleinen brasilianischen Schule in der Nähe angemeldet.
1930, das erinnere ich noch, bin ich mit meiner Mutter nach Deutschland gefahren, denn wir hatten von dem Verkauf eines Geschäfts, das mein Vater in Deutschland besessen hatte, noch etwas Geld zu bekommen. Wir waren einige Monate in Deutschland - erledigten, was zu erledigen war und besuchten meine Großmutter.
Von dem Geld, was wir mitbrachten, hat mein Vater dann auf dem Grundstück in Jabaquara, wo bis zu diesem Zeitpunkt ein kleines Häuschen stand, ein neues, größeres Haus bauen lassen. Zusätzlich erwarb er ein Sítioan der Represa, einem Gebiet, das heute zu Interlagos gehört und wo sich jetzt das Restaurant Golden Interlagos befindet.
Damals hatte mein Vater einen Agraringenieur gesucht, denn er wollte das Sítio nach dem Vorbild deutscher Landwirtschaft anlegen lassen. So kam es, dass ein junger deutscher Agraringenieur, der im Kolpinghaus verkehrte, bei uns arbeitete und uns anschließend häufig besuchte. Als die Arbeit getan war, erklärte er, dass er nun nach Deutschland gehen, mich aber nach seiner Rückkehr nach Brasilien heiraten würde. Ich tat dies ab, denn ich war zum damaligen Zeitpunkt 15 oder 16 Jahre alt.
Als mein Bruder, der inzwischen in Deutschland war, 1938 zur Silberhochzeit meiner Eltern nach Brasilien gekommen war, wurde ihm eine Stellung in Deutschland angeboten, die er annahm.
Auch ich stand kurz vor meiner Abreise nach Deutschland, denn ich wollte das Kindergärtnerinnen-Seminar in Hamburg besuchen.
Da sich inzwischen alle Kinder in Deutschland befanden, bereiteten auch meine Eltern ihre Rückkehr vor. Sie verkauften das Sítio, das Haus in Jabaquara und auch drei Immobilien in Moema, die sie inzwischen angeschafft hatte und transferierten den Erlös nach Deutschland. Auch die Passage war bereits gekauft. Doch dann ist das Schiff nicht mehr ausgelaufen, wegen Kriegsgefahr.
Glücklicherweise erhielten meine Eltern Hilfe von Freunde, die sie aus ihrer Zeit an der Represa kannten. Diese borgten meinen Eltern ein Stück Land, auf dem sie dann ein kleines deutsches Restaurant eröffneten.
Bevor ich das Kindergärtnerinnen-Seminar in Hamburg besuchen konnte, musste ich ein halbes Jahr Arbeitsdienst machen, denn ich hatte die Reise finanziert bekommen und ein Stipendium für die Ausbildung erhalten. Da ich gern auf dem Land arbeitete, störte mich dies nicht.
Dann brach der Krieg aus. Ich konnte weder zurück nach Brasilien, noch konnte ich mit der Ausbildung beginnen. Also habe ich gearbeitet, zuerst als Kindergartenhelferin und später im eigenen Kindergarten. Nach Dokumenten wurde zu dieser Zeit nicht gefragt.
Meine Eltern machten sich damals große Sorgen um uns. Alle paar Monate konnte man durch das Rote Kreuz ein paar Zeilen schreiben, doch die Zeiten ohne Nachricht waren schwer für sie und setzten ihnen zu.
Ich hatte inzwischen den Agraringenieur, der meinen Vater bei der Anlage unseres Sítios unterstützt hatte, wiedergetroffen. Und tatsächlich hatten wir uns verlobt. Als mein Verlobter, der damals in Polen war, mir von einem Kindergarten ganz in der Nähe berichtete, habe ich mich dort beworben und erhielt tatsächlich eine Zusage. Gleichzeitig traf ein Brief ein, dass er inzwischen an die Front berufen wurde, wo er schließlich gestorben war. Wir haben uns nie wieder gesehen.
Da saß ich nun alleine in Polen, in Zakopane [14], und habe in einem Kindererholungsheim gearbeitet. Ein Jahr war ich dort tätig, bis ich in ein Waisenhaus bei Warschau beordert wurde. Von hier sind wir schließlich mit den Kindern nach Deutschland, nach Bitterfeld, geflüchtet.
Ich selbst bin dann in die Nähe von Berlin gegangen. Mein Bruder Arno, der inzwischen geheiratet hatte, hatte mich gebeten, seiner Frau und dem gemeinsamen Kind zur Seite zu stehen, die, nachdem sie in Essen ausgebombt worden waren, bei einer Cousine meiner Schwägerin in Rangsdorf lebten.
Ich habe meine Schwägerin nach Kräften unterstützt und mich auch um meine kleine Nichte, die inzwischen anderthalb Jahre alt war, gekümmert. Schließlich erfuhr ich, dass ein Seuchenkrankenhaus, das vor allem zur Behandlung Typhuserkrankter aufgebaut worden war, eine Diätköchin suchte. Auch wenn ich immer nur mit Kindern gearbeitet hatte, bewarb ich mich als Diätköchin – und wurde tatsächlich angenommen. So konnte ich wenigstens die Kartoffelschalen aus dem Krankenhaus mitnehmen, die wir zuhause gegessen haben.
Noch in den letzten Kriegstagen war mein Bruder Gerhard gefallen. In Potsdam wurde schließlich eine Militärmission der Alliierten eingerichtet. Dort bin ich hingefahren und habe den Beamten erklärt, dass ich in Brasilien die Escola Normal Padre Anchieta absolviert hätte und dass meine Eltern in São Paulo lebten.
Sofort erhielt ich die Ausreisegenehmigung. Doch aus der russischen Zone kam ich nicht ohne weiteres heraus. Schließlich gelang es mir, über die grüne Grenze nach Westdeutschland zu flüchten. Ich ging nach Essen, wo sich noch ein Teil der Familie meiner Schwägerin befand, und beantragte dort mit der Ausreisegenehmigung, die ich bereits hatte, die Ausreise nach Brasilien. Doch zuvor musste das Einreisevisum in Berlin bei der Militärmission abgestempelt werden. Während ich mich auf dem Weg nach Berlin befand, kam die Währungsreform[15] und ich musste zurückfahren. Schließlich habe ich den Reisepass per Post zur Militärmission geschickt und nach einer Weile alle Ausreiseunterlagen erhalten.
Meine Eltern, die mit ihrem Restaurant an der Represa erfolgreich waren, übernahmen die Flugpassage. Ich selbst konnte mit Hilfe von Freunden und der Familie meiner Schwägerin schließlich die Zugfahrkarte nach Frankfurt kaufen.
Meine Eltern waren überglücklich, als ich heil in Brasilien angekommen war und sie mich im August 1948 endlich wieder in ihre Arme schließen konnten.
Nach meiner Rückkehr habe ich meiner Mutter im Restaurant, dem Tannenhaus, geholfen. Der Entenbraten meiner Mutter war sehr beliebt und zog viele Deutsche, die hier lebten, an. Auch ein Herr, der aus Wuppertal stammte und in São Paulo arbeitete, kam häufig in unser Restaurant. Über die Zeit freundeten wir uns an. 1949 haben wir geheiratet.
Von seinem Vater, der in Wuppertal eine Maschinenfabrik besaß, hatte mein Mann Maschinen erhalten. So baute er eine Drahtfabrik in Santo Amaro auf. Zuerst waren Gebäude und Grundstück gemietet, bis wir das Gelände schließlich kauften.
Als mein Mann an Parkinson erkrankte, habe ich ihn gepflegt und die Firma weitergeführt, obwohl ich Kindergärtnerin bin und das Verkaufen von Drähten nicht gelernt hatte. Später habe ich sogar neue Maschinen angeschafft und die Firma vergrößert. Wir haben uns ganz schön durchgekämpft – die Angestellten und ich.
22 Jahre ging dies so, bis mein Mann 1981 gestorben ist.
Über die Jahre hatte ich Kontakt zu einem jungen Mann, der Isolierungen für Drähte verkaufte. Als ich ihm nach dem Tod meines Mannes erzählte, dass ich das Unternehmen auflösen wollte, war er sehr interessiert. Ich überschrieb ihm also die Firma, die er unter gleichem Namen weiterführte und war froh, dass mir die langwierige und bürokratisch aufwändige Auflösung erspart blieb. Einige Jahre bestand das Unternehmen noch, bis der neue Besitzer eines Tages zumachte. Das Gebäude ist bis heute vermietet und trägt auch jetzt, wo ich im Lar Recanto Feliz lebe, zu meinem Lebensunterhalt bei.
Lange war ich Mitglied des Esporte Clube Banespa und bin dort regelmäßig zum Ausgleich geschwommen. Eines Tages allerdings bin ich unglücklich auf den Rücken gestürzt. Anschließend konnte ich zwar meinen Alltag in irgendeiner Form bewältigen, doch die Schmerzen wurde ich nicht los. Ich bekam Schmerztabletten verordnet, immer und immer wieder. Doch die halfen nicht, so dass mir die Dinge des täglichen Lebens schließlich zu viel wurden.
Da kam mir die SBA in den Sinn, die ich in- und auswendig kannte: Zur Grundsteinlegung des Hellner-Heims hatte ich dort bereits mit dem Chor der Lyra[16] gesungen, mit dem ich bis heute verbunden bin. Auch mein Bruder hatte schon früh einen intensiven Kontakt zur SBA. So hat er, während er die Kaffeerösterei hatte, immer wieder Kaffee gestiftet. Wenn es einen besonderen Anlass gab, hat er sich eingebracht.
1996 erlitt nun seine Frau, meine Schwägerin Christine, einen schweren Schlaganfall. Mein Bruder und Christines Schwester, die damals noch in der Granja Julieta wohnten, kamen sehr häufig, um meine Schwägerin zu besuchen, bis sich meine Bruder Mitte des Jahres 2000 entschloss, auch in das Lar Recanto Feliz zu ziehen.
Ich besuchte das Lar Recanto Feliz häufig und war mit der Skat-Gruppe der Lyra, zu der ich ebenfalls gehörte, jede Woche dort, denn Skatspieler gab es hier einige, mein Bruder eingeschlossen. Das Lar Recanto Feliz war ein fester Bestandteil meines Lebens.
Mein Bruder starb, kurz vor seinem 90. Geburtstag, Ende Mai 2004, ein Jahr vor meiner Schwägerin Christine. Ihre Schwester Maria, die sie lange Jahre betreute, lebt inzwischen auch im Lar Recanto Feliz.
Als sich nun meine Schmerzen, die infolge des Sturzes aufgetreten waren, nicht besserten, meldete auch ich mich im Lar Recanto Feliz an.
Während der Einstiegsuntersuchung, die ein fester Bestandteil des Aufnahmeprozesses ist, berichtete ich von meinen Schmerzen, die die bis dahin behandelnden Ärzte einfach nicht in den Griff bekommen hatten. Dr. Emerson, der aufnehmende Arzt, verordnete daraufhin entzündungshemmende Medikamente, die mir sofort halfen. Bis heute bin ich ihm dankbar, denn endlich bin ich wieder schmerzfrei.
Inzwischen lebe ich seit fünf Monaten im Lar Recanto Feliz. Vor wenigen Wochen habe ich meinen 90. Geburtstag gefeiert. Um genau zu sein, habe ich diesen Geburtstag gleich mehrmals gefeiert, einmal mit meinen deutschen Freunden in der Lyra, dann mit meinen brasilianischen Freunden und schließlich mit meinen früheren Angestellten.
Ich fühle mich sehr wohl im Lar Recanto Feliz, treffe hier viele Freunde, die ich schon ewig kenne und vor allem meine Schwägerin, mit der ich erst gestern in der Cafeteria gewesen bin. Glücklicherweise habe ich noch nicht zugenommen. Das Essen hier ist nämlich gut und reichhaltig. Wie auch das Angebot an Freizeitaktivitäten. Regelmäßig besuche ich das Gedächtnistraining, um geistig fit zu bleiben und die hohe Lebensqualität, die ich hier genieße, lange aufrechterhalten zu können[17]“.
[1] Die Deutschen Rentenbank, die Mitte 1923 gegründet worden war, begann am 15. November 1923 die Rentenmark als neues Zahlungsmittel herauszugeben.
(http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/innenpolitik/waehrungsreform/)
[3] Revolta Paulista de 1924, auch genannt Revolução Esquecida, Revolução do Isidoro, Revolução de 1924 oder Segundo 5 de julho: Es handelte sich um einen der größten bewaffneten Konflikte in der Geschichte São Paulos. Siehe auch: Topoi, Band 12, Nr. 23, Jul.-Dez. 2011, Seiten 161-178
[4] Vergl. Curriculum Vitae - Kurzfassung Arno Paulo Kirst in: Die Zeitung unseres Heims Lar Recanto Feliz São Paulo, 7. Jahrgang, Nr. 35, 2. Quartal, 1. April 2003
[6] Die „Deutschen Schule zu Villa Marianna“ (damalige Schreibweise – heute: Vila Mariana) wurde am 6. Januar 1901 von deutschen Einwanderern gegründet. Heute trägt die Schule den Namen Colégio Benjamin Constant. (http://www.colegiobenjamin.com.br)
[8] Hierbei handelt es sich um die damalige Schreibweise (eigentl. Casa Alemã). Siehe hierzu auch: http://vejasp.abril.com.br/materia/a-casa-alema
[10] Die Maschinenfabrik MERTENS & FROWEIN GMBH & CO KG wurde 1901 gegründet und besteht bis heute. (http://www.mertens-frowein.de)
[12] Interview mit Gertraut Ostermann (geb. Kirst) am 27.06.2013 (geführt von Esther K. Beuth-Heyer)
[13] Vergl. Curriculum Vitae - Kurzfassung Arno Paulo Kirst in: Die Zeitung unseres Heims Lar Recanto Feliz São Paulo, 7. Jahrgang, Nr. 35, 2. Quartal, 1. April 2003
[14] Zakopane liegt in der Woiwodschaft Kleinpolen im südlichsten Teil Polens, rund 90 Kilometer südlich der Stadt Krakau in einem weiten Talbecken der Hohen Tatra nahe der slowakischen Grenze.
Rosa Schatz Langer
* 16.08.1921
Geburtsort: Telfs (Tirol, Österreich)
Einwanderung nach Brasilien: 1934
Familie: 11 Geschwister
„Als wir 1934 nach Brasilien einwanderten, waren meine Geschwister und ich zwischen vier und 22 Jahren alt. Ich selbst war das siebte Kind meiner Eltern, die einen Bauernhof besaßen.
Mein Vater, der stets politisch interessiert war, fürchtete einen Krieg, in den seine Söhne eingezogen würden. Diese Sorge ließ den Gedanken einer Auswanderung reifen.
Eine Anzeige in einer Zeitung erregte die Aufmerksamkeit meines Vaters. Darin sagte ein Herr aus Blumenau Auswanderungswilligen seine Unterstützung zu. Daraufhin schickte mein Vater zwei seiner Söhne 1932 nach Brasilien. In der Nähe von Blumenau stand Land zum Verkauf und meine Brüder sollten dieses erwerben und die Umsiedelung der gesamten Familie vorbereiten.
1934, zwei Jahre später, machten wir uns schließlich in einer Gruppe von 60 Personen unter Leitung von Minister Andreas Thaler[1]auf nach Dreizehnlinden im Bundesstaat Santa Catarina.
Wir reisten auf dem Schiff „Oceana“ bis Rio de Janeiro, dann mit einem Dampfer weiter nach Rio Grande do Sul. Anschließend fuhren wir zwei weitere Tage mit der Eisenbahn bis wir unsere Reise schließlich zu Fuß fortsetzen mussten. Ewig liefen wir durch den Urwald und niemand kannte den Weg.
Eines Nachts tauchten plötzlich Reiter mit Peitschen auf. Wir hatten große Angst, fürchteten, es mit Indianern zu tun zu haben. Doch es waren Einheimische, die uns nichts zu Leide taten.
Am folgenden Tag, so erinnere ich, folgten wir Kinder – ich war damals dreizehn Jahre alt – und die Älteren über eine Distanz von mindestens 20 Kilometern einem voll beladenen Ochsenkarren.
In Dreizehnlinden wurden wir zunächst in ein Lager gebracht. Bald kaufte mein Vater, einen Kilometer vom Zentrum entfernt, drei Kolonien (30 Alqueires[2]), einige Rinder und Schweine und ein Pony für uns Kinder.
So groß die Freude über das Tier auch war: Das Leben in Dreizehnlinden war ausgesprochen beschwerlich, härter als viele dies erwartet hatten. Auch ich musste, trotz meiner 13 Jahre, kräftig anpacken.
Das Heimweh war groß und meine Mutter sagte einmal, dass sie, wenn es eine Brücke von Brasilien nach Tirol gäbe, auf den Knien in die Heimat rutschen würde. Trost meiner Mutter war mein geistig behinderter Bruder, zu dem sie ein besonders inniges Verhältnis hatte. Einen anderen Sohn hatte meine Mutter bereits verloren, denn einer der beiden Brüder, die als erste nach Brasilien aufgebrochen waren, hatte sich noch vor unserer Ankunft aus Heimweh und Verzweiflung das Leben genommen. Für uns alle war dies ein schwerer Schlag.
Als ich 16 Jahre alt war, ging ich, wie viele junge Mädchen damals, nach São Paulo, um in einem Haushalt in Stellung zu gehen.
Ich arbeitete in verschiedenen Häusern, hatte mein Auskommen und erlernte nebenbei die Landessprache. Anfangs tat ich mich schwer mit dem Portugiesischen. So wurde ich einmal aufgefordert, “papel higiénico”, Toilettenpapier, zu bringen, brachte aber Eis, “gelo”.
Wann immer ich konnte, besuchte ich meine Familie, meine zweite Heimat Dreizehnlinden. Es war mir stets eine große Freude, zu sehen, wie gut die rund 800 österreichischen Kolonisten vorankamen und ihre kulturellen Traditionen erhielten.
So zufrieden ich mit meiner Tätigkeit in den Haushalten war, regte sich doch der Wunsch, mich weiterzuentwickeln und einen Beruf mit Zukunft zu ergreifen. Ich meldete mich also als Friseurlehrling in einem Geschäft an. Da mir alles leicht von der Hand ging, durfte ich bereits nach kurzer Zeit selbst frisieren, wodurch ich mehr verdiente. Dieser Schritt nach vorn brachte es mit sich, dass ich mich reich und glücklich fühlte. Zumindest kurzfristig, denn in diesen unbeschwerten Tagen erfuhr ich, dass meine Schwester Anna mit 23 Jahren am Kindbettfieber gestorben war, da es in Dreizehnlinden keine medizinische Versorgung gab.
Das erste Kind meiner Schwester war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal anderthalb Jahre alt. Meine Mutter kümmerte sich um das kleine Wesen, bis es 14 Jahre alt war. Dann nahm ich das Kind bis zu meiner Heirat bei mir auf.
In São Paulo hatte ich zwei jüngere Schwestern, ein Bruder lebte in Rondônia,im Nordwesten Brasiliens. Inzwischen hatte ich bereits auch zahlreiche Neffen.
Mit zwei meiner Schwestern besuchte ich schließlich Tirol. Das war ein großartiges Erlebnis, denn in Telfs wurden wir vom Bürgermeister begrüßt und trafen alle Verwandten, Freunde und Bekannte wieder.
Im Jahr 1952 kam Franz Langer, ein Tscheche, nach São Paulo. Dort lernte ich ihn 1953 kennen. Wenig später, genauer gesagt nach drei Wochen, heiraten wir. Kurze Zeit war ich weiterhin als Friseurin tätig. Franz war Werkzeugmacher.
1955 schließlich entschlossen wir uns, eine kleine Metallfabrik aufzubauen. Wir haben Staufferbüchsen hergestellt. Nun hatte ich keine Locken mehr zu machen, sondern Metall zu bearbeiten. Es war nicht ganz leicht, doch ich machte mich ausgesprochen gut. Anfangs war das Geld knapp. Nach einer Weile lief das Geschäft aber so gut, dass wir 1964 Franz‘ Familie, die ich bis dahin nicht kennengelernt hatte, in Europa besuchen konnten.
Kinder hatten wir keine. In der Fabrik half uns ein Neffe, der sehr fleißig war. Er übernahm auch das Geschäft, als mein Mann und ich 1995 ausschieden.
In all den Jahren konnten wir uns eine stabile Existenz schaffen. 1965 fanden wir ein schönes Stück Land in Cotia, unweit der Stadt São Paulo. Auf diesem 11.000 Quadratmeter großen Grundstück bauten wir uns ein kleines Paradies. Mit unseren zwei Schäferhunden und vielen Freunden und Verwandten erlebten wir dort viele glückliche Stunden.
Doch wir wurden älter und kränklicher. Ich erlitt einen Schlaganfall und verlor dabei auf einem Auge meine Sehkraft. Im Alter von 90 Jahren bekam auch Franz einen Schlaganfall und musste einen Monat im Hospital verbringen. Die Probleme häuften sich, trotz eines Caseiros, eines Pächters, und Pflegepersonals.
Im Jahr 2000 entschied ich, mit meinem Mann, der zehn Jahre älter war als ich, ins Lar Recanto Feliz der SBA zu gehen. Zu Beginn tat sich mein Mann schwer, er war sehr nervös, bisweilen sogar bösartig und in den Nächten ausgesprochen unruhig. Nach einer Weile verbesserte sich sein Zustand. Bis zu seinem Tod 2008 hatte er exzellente Betreuer, die ihn hingebungsvoll gepflegt haben.
Ich persönlich habe von Anfang an die Freiheiten und Möglichkeiten, die sich mir hier bieten, genossen. Jeden Tag wird von morgens bis abends Programm geboten, von Kursen bis hin zu Ausflügen. Ich selbst interessiere mich für Filme und habe eine große Sammlung. Vor über zehn Jahren haben wir begonnen, diese Filme regelmäßig im Auditorium zu zeigen.
Jetzt, wo ich vergesslicher werde und manchmal nicht mehr so gut allein zurechtkomme, fühle ich mich hier sehr sicher. Über meinem Bett, nahe der Tür und im Badezimmer befindet sich ein Alarmsystem. Wenn ich dieses betätige, kommt sofort eine Pflegekraft, Tag und Nacht. Seit einiger Zeit habe ich zusätzlich eine Acompanhante, eine Helferin, die mir täglich von 8:00 bis 16:00 Uhr zur Hand geht. Wer hier, im Lar Recanto Feliz, leben kann, der ist ein glücklicher Mensch”[3].
[2] Ein Alqueire Paulista entsprach 2,43 Hektar. (http://en.wikipedia.org/wiki/Alqueire)
[3] Grundlagen: Die Zeitung unseres Heims, Lar Recanto Feliz São Paulo, 7. Jahrgang, Nr. 26, 1. Juli 2003 (Interview geführt von Henrike Seuthe Puka) und Interview am 27.06.2013 (geführt von Esther K. Beuth-Heyer)
Österreicher in Brasilien - Dreizehnlinden
„Am 29. März 1933 wurde die „Österreichische Auslandssiedlungsgesellschaft“ in Wien mit dem Ziel gegründet, im Ausland geschlossene österreichische Siedlungen zu errichten. Präsident und größter Fürsprecher jener Gesellschaft war der aus Tirol stammende ehemalige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler. Unmittelbar nach Errichtung der Gesellschaft machte dieser sich auf den Weg nach Südamerika, um geeignetes Land zu erkunden und zu erstehen. Seine Reise ging dabei nach Chile, Paraguay, Argentinien und Brasilien. Schnell glaubte Thaler in Paraguay den idealen Siedlungsraum gefunden zu haben, ließ sich mit Argumenten wie der hohen Kindersterblichkeit jedoch von seinem Plan wieder abbringen. In Cruzeiro do Sul, der heutigen Bezirksstadt Joacaba im [brasilianischen] Bundesstaat Santa Catarina,überzeugte ihn der ehemalige deutsche und später österreichische Konsul Walter von Schuschnigg, ein Gebiet von etwa 52 Quadratkilometern nördlich der Stadt zu erwerben. Die österreichische Regierung ging für den Kauf in Vorleistung und so erstand die Aussiedlungsgesellschaft ihr erstes Gebiet in Übersee, das Thaler, nach dem Werk von Friedrich Wilhelm Weber, „Dreizehnlinden“ nannte. […]
[…] Thaler wollte wohl mit der Aussiedler-Gemeinde Treze Tílias (Dreizehnlinden) ein Refugium für seine Landsleute schaffen, das ganz im Geist der Zeit […] geschaffen war. Bevor es jedoch die bedeutendste österreichische Siedlung in Brasilien werden konnte, musste Thaler zurück nach Österreich und - mit Zusagen der brasilianischen und österreichischen Regierung auf deren Unterstützung - Siedler gewinnen.
Thaler, selber Tiroler und mit den Bedingungen des Landes vertraut, machte keinen Hehl daraus, dass es harter Aufbauarbeit im Siedlungsgebiet bedurfte, die insbesondere die Tiroler Bauernaus ihrem Leben kannten. Diese waren noch dazu durch die Weltwirtschaftkrise von 1929/30 besonders hart betroffen und viele steckten in Schulden und Schwierigkeiten, von denen sie sich im kleinen Österreichnicht so leicht erholen konnten, wie in einem Staat, der nicht so unter den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges litt, wie ihre Heimat.
Außerdem war Tirol ein kinderreiches Bundesland, jedoch durch die Erbfolgebestimmungen bekam jeweils nur der älteste Sohn den Hof und das Land vererbt und die restlichen Kinder, die nur die Landwirtschaft gelernt hatten, gingen leer aus.
Durch Werbemaßnahmen unterstützt, gelang es Thaler, mehr und mehr zukünftige Siedler zu motivieren, sich zu melden und am 08.09.1933 verließen die ersten Neu-Brasilianer aus Österreich ihre Heimat und erreichten am 18.09.1933[1] Rio de Janerio. Nach weiteren 18 Tagen zur Abklärung der Einreiseformalitäten machte man sich auf den Weg ins neue Siedlungsgebiet. Zur großen Überraschung der Auswanderer fand man dort eine Kleinstsiedlung von Österreichern aus Krems, die bereits seit 1930 dort wohnten, jedoch noch nicht viel zustande gebracht hatten. Thaler erkannte, dass es wichtig war, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und so schaffte er mehr öffentliche Einrichtungen […] [und] veranstaltete in seinem „Tiroler Haus“ Tirolerabende, um den Erfolg voranzutreiben […]. Nach drei Jahren berichtete er über die Fortschritte in Briefen an die alte Heimat und bald darauf kamen weitere Aussiedlertransporte in die junge Niederlassung. Bereits ein Jahr später, 1937, kam es dann zur Gründung der Tochtersiedlungen Babenberg und Dollfuß, in Anlehnung an den österreichischen Bundeskanzler.
Im Jahre 1939, Österreich war inzwischen dem Deutschen Reich„angeschlossen worden“ und die Siedlung dem deutschen Generalkonsulat in Joacaba unterstellt, kam ihr Gründer, Andreas Thaler, bei einem Hochwasser zusammen mit weiteren Siedlern in den Fluten ums Leben“.[2]
„Im Jahr 1959 konnte die seit 1933 mit der Verwaltung und Abwicklung der Transporte betraute österreichische Auslandssiedlungsgesellschaft in Innsbruck aufgelöst werden, nachdem sie einen Ablösebetrag von 400 000 Schilling von der brasilianischen Regierung erhalten hatte.
In den vierziger Jahren hieß Dreizehnlinden "Papuan", da der nation-building-process und die Politik gegen ehemalige Bewohner der Achsenmächte zu zahlreichen Namensänderungen von Einwandererdörfern geführt hatte. 1961 wurden in Treze Tilias die restlichen Besitztitel vergeben.
Heute ist es mit ca. 5000 Einwohnern ein prosperierendes Munizip, das auch aufgrund der Subventionen der Tiroler Landesregierung,
kontinuierlicher, temporärer Migrationen zwischen Tirol und der Ortschaft und der gestiegenen Attraktivität als exotisches Tourismusziel in den letzten Jahren profitieren konnte“.[3]
[1] Die kurze Dauer der Überfahrt erscheint nicht schlüssig.
[2] Zitiert aus: http://www.suedamerika-fakten.de/brasilia-overview/49-geschichte-brasilien/102-dreizehnlinden-brasilien.html
[3] Zitiert aus: http://www.lateinamerika-studien.at/content/geschichtepolitik/brasilien/brasilien-27.html